Autorin
Sabine Ibing
Doris Anselm, geboren in Buxtehude, studierte
Kulturwissenschaften in Hildesheim und absolvierte anschließend
ein journalistisches Volontariat an der ems - electronic media
school in Potsdam. Sie lebt in Berlin und arbeitet als
Radioreporterin bei radioBERLIN 88,8 (rbb).
Von Doris Anselm erschien bereits Prosa und Lyrik in Anthologien
und Literaturzeitschriften, u.a. im Jahrbuch der Lyrik 2017, in
»entwürfe, »DUM« und »thrashpool«. 2014 gewann sie den
wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchs-
Literaturwettbewerb»open mike«.
Ich lernte Doris Anselm beim »Blog’n‘talk« des Randomhouse-
Verlags auf der Leipziger Buchmesse kennen. Sie sprach mich an,
ob ich ein Kurzinterview mit ihr machen möchte. Sie versprühte
die Energie für fünf mit natürlicher Freundlichkeit (was man dort
nicht von jedem Autor sagen konnte). Genauso war unser
Gespräch: offen, spaßig, dynamisch. Natürlich war ich nun
gespannt auf das Buch mit den Kurzgeschichten.
S. I.: Doris, ich nehme dich wahr als lebhaft, kommunikativ und
kreativ. Verschlägt es dir je die Sprache?
D. A.: Ha, diese Frage wurde mir schon mal für einen Steckbrief
gestellt: In meinem „Brotberuf“ als Radioreporterin. Da habe ich
geantwortet: „Leider nie – eher rede ich mich um Kopf und
Kragen.“ Ich fürchte, das stimmt immer noch …
S. I.: Du bist Radioreporterin. Reingeschlittert durch Zufall oder
war das ein Berufswunsch?
D. A.: Ursprünglich wollte ich nach der Uni zur Zeitung. Die
Möglichkeit „Radio“ hatte ich gar nicht so richtig auf dem Schirm.
Aber dann habe ich während meines journalistischen Volontariats
auch beim Radio gearbeitet und bin auf den Geschmack
gekommen. Mir gefällt es, etwas mit meiner Stimme zu machen.
Deshalb machen mir auch Lesungen so viel Freude.
S. I.: Hättest du Interesse am Fernsehen oder ist das nicht dein
Metier?
D. A.: Ich habe auch schon mal beim Fernsehen gearbeitet und
fand das sehr spannend. Aber als Radioreporterin bin ich
schneller und wendiger. Das Medium ist nicht ganz so aufwendig.
Es gibt eben nur den Ton, nicht auch noch das Bild.
S. I.: Du hast 2014 den »Open Mike« mit dem Text »Die Krieger des
Königs Ying Zheng« gewonnen. Der Preis wurde angekündigt mit:
» Den ... Hauptpreis erhält Doris-Demokratie-deine-Mutter-
Anselm«. Magst du dazu etwas erzählen?
D. A.: Oh, gerne! Das ist eine schöne Erinnerung. Also, in meiner
Geschichte ging es um ein Einkaufszentrum, das praktisch die
Heimat einer Gruppe Jugendlicher ist. Aber das Center ist von
der Schließung bedroht. Eine Figur schlägt vor: „Wir machen so
Volksbegehren, Dicker. Mit Demokratie.“ Worauf jemand
entgegnet: „Demokratie deine Mutter!“ und eine andere Idee
einbringt.
S. I.: Deine Texte sind keine Massenware, sondern zarte Gebilde,
bei denen der Leser den Kopf gebrauchen muss. Woher rührt
der Satz von dir: »Weil ich auch so nach der Philosophie arbeite:
Wenn de wat verkoofen willst, musste was inne Auslage tun!«
D. A.: Ach herrje, der Satz verfolgt mich immer noch?! Der wurde
in einem Artikel mal aus dem Zusammenhang gerissen. Eigentlich
hatte ich auf die Frage geantwortet, wie es kam, dass ich in einem
Jahr gleich zwei Literaturpreise gewonnen hatte (neben dem
„open mike“ auch den Bonner Literaturpreis, damals
„Dichtungsring“ genannt). Und um nicht zu sagen „Weil ich
anscheinend gut schreibe“, was mir irgendwie peinlich-arrogant
vorkam, habe ich in etwa gesagt: „Na, weil ich überall was
hingeschickt habe!“ Und dann den Satz oben. Ich wollte damit
ausdrücken, dass man sich mit seinen Texten ruhig vorwagen soll,
und zwar oft und immer wieder. Ablehnungen notiere ich mir und
vergesse sie dann schnellstmöglich. Wer sich nicht zeigt, kann
nicht gesehen werden. Aber ums „verkaufen“ als kommerziellen
Erfolg ging es eigentlich nicht.
S. I.: »Und in dem Moment holt meine Liebe zum Gegenschlag
aus«, der Titel deines Erzähbandes. Dein Titel? Für mich passt er
so gar nicht zu deiner Art und Weise zu schreiben. Wie kam es
dazu?
D. A.: Huch? Ich finde, er passt total gut! Aber so gehen die
Geschmäcker auseinander … Der Titelsatz stammt aus einer der
Geschichten. Für mich beschreibt er sehr schön einen Umbruch
oder Wendepunkt, und darum geht es oft im Buch. Und trotz der
„Zartheit“ gibt es eine Unterströmung von Gewalt: Zwei Kinder
foltern ein anderes, ein Pilzgeflecht vertreibt eine junge Familie
aus dem Wald, ein Freundeskreis wird regelrecht gesprengt, weil
sich alle in denselben Mann verlieben. Liebe hat oft mit Gewalt zu
tun. Darüber denke ich nach und deshalb stehe ich voll zu dem
Titel!
S. I.: Deine Kurzgeschichten sind genaue Beobachtungen, präzise
formuliert, Sätze die schwingen. Sprache minimalisiert, ein Elixier.
Es gibt Schriftsteller, die schreiben kurze abgehackte Sätze, ohne
Substanz. Bei dir klingt jeder Satz nach. Du schreibst auch Lyrik.
Hat dich die Lyrik zu dieser Verdichtung gebracht?
D. A.: Erstmal vielen Dank für das Kompliment! Ich habe mit dem
Lyrikschreiben zuerst nur angefangen, weil ich das Gefühl hatte,
dass meine Sprache ein stumpfes Werkzeug war: viel zu grob für
das, was ich literarisch vorhatte. Also habe ich mich mit Gedichten
befasst. Da zählt eben jeder Laut, jede Silbe, jede Pause. Und
dann hat das seinen eigenen Sog entwickelt.
S. I.: Poetry Slam, bist du ein Fan? Selbst eine Slammerin? Wenn
ja, seit wann?
D. A.: Ich wäre eher der Lesebühnentyp, glaube ich. Das habe ich
auch einmal ausprobiert. Ist ähnlich wie Poetry Slam, nur ohne
den Wettstreit-Charakter. Es wird in unserer Gesellschaft sowieso
schon viel auf Konkurrenz gepocht, finde ich, da brauche ich das
in der Literatur eigentlich nicht auch noch. Auf Poetry Slams führt
das oft zu Texten, die nur Pointen aneinanderreihen, um
möglichst viele Lacher zu bekommen. Dabei gibt es auch extrem
lustige Texte mit sehr hintergründigem Humor. Kirsten Fuchs‘
„Herzlich Willkommen, 1946“, zum Beispiel. Eine Idee, auf die ich
wirklich neidisch bin: Da schleppt sich ein Mann aus
Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland, der Anfang des
Textes ist sehr getragen. Aber als seine Frau ihm die Tür
aufmacht, wie wir das ja tausendfach gesehen und gelesen
haben, rührend oder rührselig – da macht sie ihn komplett zur
Sau. Wo er denn geblieben wäre, und dass sie alles alleine
wiederaufgebaut hätte, dass er es ja andererseits auch nicht
besser verdient hätte als in Gefangenschaft zu landen, wenn er
in einem anderen Land alles kaputtgeschossen hat … das Ganze
im breiten Berlinerisch. Grandios.
S. I.: Wasser, Schwimmbecken, Schwimmer, Chlorwasser, oft ein
Thema in deinen Geschichten. Was verbindet dich mit Wasser?
D. A.: Wasser ist ein faszinierendes Element. Nachgiebig und
trotzdem allmächtig, durchsichtig und trotzdem oft tief und
obskur. Ich schwimme und tauche auch gern.
S. I.: Liest man deine Geschichten, so hat man am Ende nicht mit
dem Text abgeschlossen. Man ist gezwungen nachzudenken, sie
wirken zu lassen. Sie erklären sich nicht immer von selbst, einige
Dinge bleiben im luftleeren Raum, geben dem Leser viel Freiheit
der Interpretation. Wie lange feilst du an einer Kurzgeschichte?
D. A.: Schwer zu sagen. Oft habe ich ein paar Sätze im Kopf oder
einen Grundkonflikt, ein paar Notizen, lange bevor ich wirklich mit
dem Schreiben anfange. Ich weiß gar nicht, was mein Kopf da
hinter meinem Rücken macht! Oh, oh, schiefes Bild :-) Und dann
wird noch in vielen Durchgängen überarbeitet. – Zum Thema „Die
Geschichten sind nicht richtig zuende“ kann ich sagen, dass ich
gern lebensnah schreibe. Es wird oft behauptet, dass ein
„klassisches“ Erzählmuster mit Anfang-Mitte-Schluss,
chronologischer Reihenfolge und so weiter besonders natürlich
oder lebensnah wäre. Und alles andere krasse literarische
Spielerei. Aber das finde ich nicht. Wenn ich mir das echte Leben
so angucke, dann läuft es ja viel wirrer ab! Man erkennt oft erst
spät, welcher Moment wichtig war. Entwicklungen verlaufen im
Sande, man puzzelt sich einen Sinn zusammen … Und darüber will
ich schreiben. Daher die offenen Enden.
S. I.: Metaphern sind für mich Minenfelder. Nur wenige
Schriftsteller können damit umgehen. Bei dir liest es sich wie von
Zauberhand geschrieben. Wie lange feilst du an deinen
Formulierungen?
D. A.: Lange. Metapher können wirklich ein A******** sein!!
Angeblich gibt es ja auch immer eine „Metaphernkrise“, angeblich
ist schon alles verbraucht. Aber wenn man diesem Argument
folgen würde, könnte man nicht nur mit dem Metaphernbilden
aufhören, sondern mit vielen anderen Tätigkeiten auch.
Außerdem ergeben z.B. neue technische Entwicklungen immer
wieder neue Metaphernfelder. Wie wäre es zum Beispiel mit
Frischhaltefolie? Die gibt es noch nicht so lange, da könnte man
sicher tolle Metaphern draus bauen! Abgeschlossenheit, aber
Transparenz … dünn, fast unsichtbar, aber luftdicht … Und wenn
eine Figur die Geschichte erzählt, finde ich immer, dass die
Metaphern zu ihrer Erlebniswelt passen sollten.
S. I.: Deine Geschichten erzählen von Menschen wie du und ich,
die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen und sich an eine
Begebenheit ihres Lebens erinnern. Oder ihnen geschieht etwas
Unerwartetes. Sind es Splitter, die das ganze Leben eines
Menschen verändern können?
D. A.: Klar, es sind immer die winzigen, unscheinbaren Momente!
S. I.: Gab es einen Splitter, der deinem Leben eine völlig andere
Wendung gab?
D. A.: Ein paar. Aber die gehören natürlich zum Privatesten, was
man hat, also psssst!
S. I.: Arbeitest du derzeit an einem neuen Manuskript? Wenn ja,
magst du etwas darüber erzählen?
D. A.: Ich schreibe fleißig und inzwischen auch wieder
zielgerichtet. Mehr mag ich noch nicht sagen – oder kann es auch
nicht, weil ich mir selbst noch nicht ganz sicher bin, was es wird.
S. I.: Wo finden wir die Termine zu deinen Lesungen?
Im Moment am besten auf der Webseite des Verlags, weil es ja
um das aktuelle Buch geht.
S. I.: Ich danke dir für dieses Gespräch.
Na, Danke fürs Zuhören und Lesen!
Rezension zu: »Und in dem Moment holt meine Liebe zum
Gegenschlag aus«
Interview mit
Doris Anselm
(von Sabine Ibing)