© Sabine Ibing, Lorib GmbH         Literaturblog Sabine Ibing
Autorin Sabine Ibing
Interview mit Anne Kuhlmeyer (von Sabine Ibing) Ich freue mich, dass ich als erstes Anne Kuhlmeyer vorstellen darf. Sie ist eine Schriftstellerin der besonderen Art. Ihre Sprache in ihren Romanen ist eindringlich, fast poetisch. Anne Kuhlmeyer  ist eine gute Beobachterin und versteht sich auf die Tiefen der menschlichen Seele. Beides bringt sie gekonnt auf Papier. Nach ihrem Studium der Medizin in Leipzig (Geburtsort) zog sie 1990 ins Münsterland nach Coesfeld, um ihren Facharzt zu absolvieren. Anne Kuhlmeyer betreibt einen Blog, auf dem sie Kurzgeschichten und Gedichte präsentiert. Anne Kuhlmeyer war zwanzig Jahre als Anästhesistin, Intensiv- und Rettungsmedizinerin, sowie als Schmerztherapeutin an verschiedenen Kliniken tätig, seit 2009 ist sie als Psychotherapeutin niedergelassen, speziell in der Psychotraumatologie. 2003 begann sie zu schreiben und verfasste diverse Kriminalromane und Kurzgeschichten. Seit 2011 schreibt sie für das online-Feuilleton Culturmag.de. http://www.autorin-anne-kuhlmeyer.de/ https://annekuhlmeyer.wordpress.com/ Du schreibst Gedichte, Kurzgeschichten und Romane. Die meisten Autoren trauen sich an Kurzgeschichten nicht heran. Schon gar nicht liegt ihnen die Lyrik. Wie schaffst du es, in allen diesen Bereichen sicher mit Sprache umzugehen? Anne: Die Kurzgeschichte ist eine wunderbar knappe Form, in der man zum Einen genau sein muss und zum Anderen pointiert einen Ausschnitt auf ein Thema, ein Phänomen, ein Stückchen Welt zeigen kann. Ich mag diese Form sehr. Zu Unrecht wird sie nicht ausreichend gewürdigt. Sie zwingt mich, jeden Satz, ja jedes Wort zu überdenken, zu verschieben, auszutauschen, damit ich die Wirkung erziele, die ich mir wünsche. Wie beim Gedicht. Lyrik, hm, ich weiß nicht, ob das Lyrik ist, was ich da mache. Ich nenne es „Mini-Literatur“ und es macht Freude. Ein Aspekt dabei ist der Rhythmus. Ich höre ihm zu und verändere da, wo er stolpert. Es ist mehr ein Spiel, das ich spiele, wenn mir zur Arbeit am Roman der Drive fehlt. Krimis und Thriller sind heute gern blutig, die Handlung passt auf einen Bierdeckel. Aber es gibt auch anspruchsvolle Themen. Welche gesellschaftspolitische Bedeutung haben Krimis und welche politische Dimension? Anne: Man kann „blutige Krimis“ samt Bierdeckelplots mit kompetenter Kriminalliteratur vergleichen wie Lore-Romane mit den Werken von Camus, Mann oder meinetwegen Schlink. Wie gesellschaftspolitisch bedeutsam (oder wirksam) Literatur überhaupt ist, stellt sich in der Tat als Frage. Oder ist das mehr eine Hoffnung der Literaturschaffenden? Sei’s drum. Die Auswirkungen von Literatur werden kaum zu erheben sein, höchstens im Individuellen. Als Schriftstellerin kann (ich sage: sollte) man politische und soziale Realitäten thematisieren und ästhetisch umsetzen. Dafür eignet sich Kriminalliteratur besonders gut, denn ihr vielleicht kleinster gemeinsamer Nenner ist die Beschäftigung mit Gewalt (was Nicht-Genre-Literatur auch tut, klar). Gewalt ist ein bedeutsames Element menschlichen Handelns, deswegen muss sie in der Literatur auf soziale Grundlagen und gesellschaftliche Verhältnisse bezogen sein, in ihrer Anwendung und Auswirkung, staatlich, gruppenspezifisch, ritualisiert, organisiert, individuell - wie auch immer sie in Erscheinung tritt. Kriminalliteratur ist Literatur von unten. Sie interessiert sich für Zusammenhänge zwischen dem Schicksal idealerweise von Menschen, für die sich sonst keiner interessiert, einschließlich der Begegnung mit Gewalt, und den unterschiedlichen Sozialsystemen, den legitimen wie den organisiert kriminellen und deren Verquickung. Die Forderungen an gute Kriminalliteratur unterscheiden sich nicht, also gar nicht, von denen an gute Literatur. Für mich heißt das: Ich möchte etwas Neues über die Welt erzählt bekommen, einen neuen Aspekt ihrer Komplexität verstehen. Und ich möchte einer spannenden Geschichte folgen dürfen.    Hast du das neue Literarische Quartett geschaut? Wenn ja, wie hat es dir gefallen? Wird hier Literatur gelesen, die für die Masse zugänglich ist? Anne: Nein, das habe ich nicht. Vielleicht sollte ich es nachholen. Aber die letzte Frage ist interessant. Ist Massenwirksamkeit ein Qualitätskriterium von Literatur? Ich denke, sie beantwortet sich selbst. Du hast Medizin studiert und du hast in der Anästhesiologie gearbeitet. Später bist du Psychotherapeutin geworden. Warum der Wechsel und wie beeinflusst dieser berufliche Werdegang dein Schreiben? Anne: Zur Anästhesiologie gehört die Schmerztherapie als Subspezialisierung. Während dieser Ausbildung stellte ich fest, dass mein Handwerkszeug nicht ausreicht, um mit dem Krankheitsbild „chronischer Schmerz“ umzugehen. Die Konsequenz war, nebenberuflich die Psychotherapieausbildung zu absolvieren, 2001 war ich fertig damit, gab 2009 meine Anästhesie/ Schmerztherapie/ Psychotherapie-Praxis auf und arbeite seitdem ausschließlich psychotherapeutisch. Die intensivere Beschäftigung mit Literatur, auch das Schreiben, hat meine Aufmerksamkeit für Formulierungen im Umgang mit Patienten geschärft. Sprachliche Besonderheiten, Wiederholungen usw. bemerke ich eher und utilisiere sie. Umgekehrt sehe ich Biographisches deutlicher in seinem sozialen Kontext, davon wird das Schreiben beeinflusst.  In deinem Roadmovie Nighttrain beschreibst du eine Person, die sich im Zeugenschutzprogramm befindet. Wo hast du zu dem Thema recherchiert? Anne: Ich hatte Gelegenheit zwei Betroffene zu interviewen, habe einen Polizisten fragen können, der damit zu tun hat und habe natürlich im Netz recherchiert. Auch Thymian und Blut ist ein Roadmovie. Was fasziniert dich an dem Thema Reisen? Anne: Ach ... die Sehnsucht vielleicht. Bisher hatte ich wenig Gelegenheit, aber den großen Wunsch zu reisen. Israel z.B. steht ganz oben auf meiner Agenda. Als Motiv in einem Roman bietet sich „Reise“ an, finde ich. Ist nicht jeder Roman eine in eine unbekannte (Denk-) Welt? Allerdings gibt es in NIGHTTRAIN ein Paradoxon. Zwar fahren Nicola und André im Zug, reisen, aber sie sind auch eingesperrt, sowohl in ihrer Mittelosigkeit, als auch in die potenziell gewalttätigen Verhältnisse. Also irgendwie geht viel, wenn man „Reise“ verwendet. Im nächsten Roman wird sie auch eine Rolle spielen. Wann erscheint dein neues Buch und was kannst du uns darüber verraten? Gibt es Lesetouren in der nächsten Zeit? Wo finden wir die Termine? Anne: Das Manuskript trägt den Arbeitstitel „Niemands Land“ und muss noch beendet werden. Wann der Roman erscheint, kann ich  insofern nicht sagen. Thematisch geht es um das „gute Leben“ und ob wir eines haben, wer eines haben könnte und was es ausmacht. Fünf Menschen unterschiedlichster Herkunft werden von der Werra- Flut in einem Haus an der ehemaligen innerdeutschen Grenze festgehalten. Sie machen sich schuldig am Tod einer Romafamilie, die auf einem Floß zu ihnen gelangt. Und sie geraten per Buch, das jeweils vorgelesen wird, in die Fremde: Nach Havanna, nach Kiew, nach Skopje ... Ein bisschen surreal, magisch das Ganze. Ich finde, es gehört in unsere Zeit. Lesereisen, wie viele Autorinnen sie durchführen, sind mir wegen meines Berufs nicht möglich. Das nächste Mal lese ich anlässlich des 6. Berliner Krimimarathons in Königs- Wusterhausen: http://www.krimimarathon.de/tatzeiten/freitag-20-11-2015/unter- zugzwang/   Ich danke dir, dass du dir Zeit genommen hast, meine Fragen zu beantworten. Anne: Und ich bedanke mich herzlich, dass Du sie gestellt hast. Zu den anderen Interviews