Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Nami schwitzt. Er hält Großmutters fleischige Hand. Die
Wellen des Sees klatschen regelmäßig an den Betonpier. Vom
Stadtstrand dringt Geschrei herüber, oder eher ein schrilles Kreischen.
Es muss Sonntag sein, wenn er mit Großmutter und Großvater hier auf
der Decke sitzt.«
Gleich zu Beginn erfahren wir, der große See, an dem eine Familie sitzt,
trocknet immer weiter aus. Der kleine Nami, drei Jahre alt, soll
schwimmen lernen. Er schluckt Wasser und muss sich später übergeben.
Er wohnt bei den Großeltern, weiß nicht, wer die Eltern sind. Die
Großeltern werden es ihm auch nie verraten. Im Dorf leiden viele
Menschen an Ekzemen, verunstaltete Kinder kommen zur Welt. Die
Großeltern sind harte Knochen, die Liebe für Nami ist aber spürbar
unterhalb der harten Erziehung. Bald stirbt der Opa und irgendwann ist
Nami allein, verlässt das Dorf, geht in die Stadt, um die Mutter zu suchen.
»›Elender Rotzbengel, ein Glück, dass du keinen Vater hast, der dich
verdreschen könnte!‹
Nami überlegt und malt sich aus, wie ihm sein Vater eine Tracht Prügel
verpasst. Die Vorstellung findet er schön.«
Das Buch hat mich mit einem Sog erfasst, verfangen in die traurige
Geschichte, deren Traurigkeit nicht enden will. Nami wird langsam
erwachsen, lernt seine Sexualität kennen, seine Grenzen, sich zu wehren,
Scham, Feigheit. Er ist auf der Suche nach der eigenen Identität.
»›Du hast ein hübsches Ekzem‹, sagt er dann beiläufig.
›Wie jetzt?‹, fragt Zaza mit finsterem Blick.
›Bei den meisten ist es rot und geschwollen, aber deins ist so … rosig,
niedlich halt.‹«
Wir befinden uns an einem großen See, Ölförderung,
Umweltverschmutzung, Fischfabrik, Armut, Kolchosen, Melonen,
Pfirsiche, Tomaten, Blini mit Kaviar, Stör, Hering, frisch frittierte Krapfen
zum Frühstück, Schafskäse, Hammelfleischfrikadellen, Piroggen und viel
Brot mit viel Zwiebeln, wir befinden uns an einem fiktiven Ort, man trinkt
Schnäpse namens »Schardonee«. Im Hinterland liegt die Wüste, die
Russen sind Besetzer und Feind. In dichtem Erzählton und Zeitraffer
schafft es Bianca Bellová, ein Gefühl für Land und Leute zu geben, sich in
die Protagonisten einzufinden. Die dichte personale Perspektive mit
Tempo im Präsens lässt Folgen von kurzen Sätzen wie Ohrfeigen an den
Leser erscheinen. Es rappelt und beruhigt sich, angepasst an die
Gefühlslage des Protagonisten. Bianca Bellová ist eine Meisterin des
Subtextes.
»Nami nimmt den Geruch von Mottenkugeln wahr, und ihm wird von dem
vertrauen Duft leicht schwindelig. Für einen Augenblick ist er wieder in
Großmutters Schrank, wo er immer saß, wenn er sich vor seinem
betrunkenen Großvater verstecken musste, den Mottenkugelduft
einatmete und sich den verlausten Kopf kratzte.«
Ein wundervolles Buch, das mit all seiner Traurigkeit berührt. Ein Funken
Hoffnung bleibt, man wünscht dem gereiften Nami Glück. Denn das hatte
er bisher immer, wenn man es ganz genau nimmt. Die Welt meint es nicht
wirklich schlecht mit ihm. Bianca Bellová, 1970 in Prag geboren, arbeitet
als Autorin, Übersetzerin und Dolmetscherin. In der Tschechei ist sie eine
bekannte Schriftstellerin. Für ihren Roman »Am See« wurde sie mit dem
tschechischen Buchpreis »Magnesia Litera« sowie mit dem Literaturpreis
der Europäischen Union, »European Union Prize for Literature«
ausgezeichnet.
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Rezension
Am See
von Bianca Bellová