Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Bevor sie mich pelleossa nannten, Hautundknochen,
nannten sie mich Schreihals, die Kinder aus der Grundschule an der Via
dei Ginepri.«
Vier Jahre Grundschule, das reicht, dann bist du alt genug für die
Feldarbeit. Der Ich-Erzähler Ninetto berichtet von seinem Leben im Dorf,
im tiefsten Süden Italiens, von der Armut, seinem Spaß am Lernen, seinem
fantastischen Lehrer.
»Bis ich neun war, habe ich von Sardellen gelebt, von einer Sardelle pro
Tag.«
Ninetto liebt seinen Lehrer, der ihm manche Weisheit mit ins Leben gibt.
Und so erklärt er seinem Vater:
»Weil ein Denker namens Russò schreibt, dass ein Mann vor vielen
Jahrhunderten ›das gehört mir!‹ gesagt hat, und seitdem sind die
Menschen ungleich geworden. … Den Namen weiß ich nicht, den hat uns
der Lehrer nicht gesagt, aber es war der, der das Privateigentum
erfunden hat ...«
Mit neun Jahren macht sich Ninetto im Schlepptau von Giuvà auf in den
Norden, dort wo es Arbeit gibt, freut sich auf die Fabriken, er würde gern
Autos zusammensetzen. Viele feine Vorstellungen hat Ninetto im Sinn,
aber es kommt anders. In den Fabriken nimmt man dem Gesetz nach erst
Arbeiter auf, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben. Drum heißt
es für Ninetto zunächst Wäsche ausliefern, per Fahrrad und im
»Bienenstock« wohnen, einer Reihe von Häusern, in denen Männer aus
dem Mezzogiorno wohnen, eingepfercht in kleine Zimmer zu mehreren
Personen, die Häuser fein getrennt in Napulìs, Kalabresen, Sizilianer. Was
es bei Mena, der Frau des Cousins von Giuvà, in dem Dreckloch zu essen
gibt, ist auch nicht mehr als zu Hause. Der gesamte Lohn geht für Kost und
Logie drauf. Irgendetwas stimmt nicht. Der Lohn, die Miete oder etwa
beides? Der Junge fühlt sich an allen Ecken ausgenutzt.
Für Ninetto ist der Umzug vom Mezzogiorno nach Mailand nichts anderes,
wie der in ein fremdes Land: neue Sprache, neue Sitten, jeder erkennt ihn
als deppigen Napulì, wo er doch Sizilianer ist. Er will nur noch eins:
eigenständig sein, nicht mehr ausgenutzt werden und einen Job in der
Fabrik und ... Maddalena ... das wird schwierig.
Das Buch spielt in den Erinnerungen und im Jetzt von Ninetto. Der Leser
erfährt, er sitzt seit längerer Zeit im Gefängnis. Während der Geschichte
wird er entlassen, kehrt nach Hause zurück. Er muss sich bewerben:
»Was Projekte und Bilanzen betrifft, dazu könnte ich meiner Meinung nach
fähig sein, denke ich, denn Projekte sind ja das Gleiche wie Träume mit
offenen Augen, und Bilanz zieht man jeden Abend, wenn man die
Nachttischlampe ausknipst und überdenkt, wie der Tag gelaufen ist.«
Die anfängliche Heiterkeit und Lebenslust von Ninetto, der Blick eines
Neunjährigen, geht über in ein enttäuschtes Leben eines Erwachsenen.
Marco Balzano berichtet im Nachwort, er habe mit vielen alten Leuten
gesprochen, die den Weg der Kinderemigration gegangen sind (1959-1962
war die Hochzeit), die zu Verwandten gingen, oder mit befreundeten
jungen Erwachsenen mitzogen, die anfangs über eine abenteuerliche Zeit
berichteten, später aber von Eintönigkeit und Entfremdung reden, von
Fabrikarbeit und Resignation, von Arbeitslosigkeit. Am Ende der
Geschichte gibt es sogar den Sprung zu den heutigen Flüchtlingen, die nun
im »Bienenstock« wohnen. Es gibt eine wunderbare Szene, in der Ninetto
einem jungen chinesischen Paar, das ein kleines Restaurant betreibt, nur
wenig Italienisch spricht, zeigt, wie man echten italienischen Kaffee kocht.
»... habe das alte Tagebuch genommen und versuche zu schreiben. Ich
habe auch an Herrn Camus gedacht, aber das genügte nicht. Inspiration
kann man sich nicht borgen, entweder hast du sie in dir, oder du kannst
es vergessen und wechselst den Beruf.«
Ein wundervoller Roman voll Empathie und Humor. Aber die Geschichte ist
mehr, als eine Begebenheit, sie ist ein Stück Zeitgeschichte Italiens, eine
Zeit voller Not und Entbehrung des Südens, eine von Emigration und von
die von unerfüllten Wünschen.
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