Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Um 12.30 erreichen die Schweden den Ørjeskogen
im Südosten Norwegens unweit der schwedischen Grenze.«
Ein dickes Sachbuch für Psychologieinteressierte, Psychotherapie.
Sture Bergwall gesteht 39 eingebildete Morde, kann keinerlei
Täterwissen präsentieren, nicht den Fundort der Leichen, er
erinnert sich nur wage an Einzelheiten, enormer Polizeiaufwand, er
führt die Polizei an der Nase herum. Das alles ist der Justiz egal, er
wird auf Grund seiner Geständnisse verurteilt, obwohl keine einzige
Leiche gefunden wird. Der Mann ist unschuldig, aber das stellt sich
erst knapp 20 Jahre später heraus.
Wie kann so etwas passieren? Hier kommt die Psychotherapeutin
Margit Norell ins Spiel, eine Frau, die manipuliert, Patienten, wie
Kollegen, eine sektenartige Gruppe aus Therapeuten um sich
scharrt … Der Journalist Dan Josefsson hat sehr genau und
detailliert recherchiert. Es geht zur Hälfte in diesem Buch um Margit
Norell, ihre Therapieform, bei der Missbrauch im Vordergrund
steht. Der Fall zeigt, wie leicht die Erinnerung labiler Patienten von
Therapeuten manipuliert werden kann. Sture Bergwall war Margit
Norells Patient, erinnert sich in der Therapie an frühen Missbrauch
durch die Eltern, sogar daran, dass diese seinen Zwillingsbruder
töteten, ihm zu essen gaben. Das alles ist nicht wahr. Sture
Bergwall, war in jungen Jahren ein drogenabhängiger
Kleinkrimineller, wurde Anfang der 90er-Jahre in der forensischen
Psychiatrie Säter behandelt. Die Ärzte verfolgten die Ansicht, mit
Psychotherapie Kriminalität heilen zu können. Bergwall wird wieder
entlassen, kommt draußen nicht klar, will zurück in die Klinik. Um
dort bleiben zu können, gesteht er Stück für Stück die Morde.
»Margit Norell wurde als schwedische Pionierin vorgestellt: ›seit den
Fünfzigerjahren wendet sie Frieda Fromm-Reichmanns
Therapiemethoden bei schweren psychischen Erkrankungen an. In
erster Linie hat sie Psychologen und Psychiater supervidiert, die sich
bewusst für die Gesprächstherapie als Alternative zu
vorherrschenden Therapien wie Elektrokrampftherapie oder auch
medikamentöse Behandlungen entschieden haben.«
Dan Josefsson berichtet zunächst über die Familie von Margit
Norell, zum Verständnis für den Leser, wie sich ihre Persönlichkeit
entwickelte. Sie war begeistert von Erich Fromm, mit dem sie sich
mehrfach traf, der aber kein Interesse zeigte, sie als Schülerin
aufzunehmen. Sie heiratet einen Kollegen, der ihr anscheinend
völlig hörig war. Kollegen berichten von einer Aura ihrer
Persönlichkeit, allein schon, wenn sie den Raum betrat. Frieda
Fromm-Reichmanns Therapiemethoden entwickelte sie weiter.
Kollegen berichten, sie hat das distanzierte Patienten-Klienten-
Verhältnis abgelehnt und den Patienten wie den Kollegen, die sie
supervisierte das Gefühl gegeben, sie sei ein Mutterersatz. Man
fühlte sich wohl bei ihr, wie im Mutterschoß. Trotz allem war ihr
Auftreten herrisch. Was sie sagte, war Fakt, was sie bestimmte,
wurde gemacht. Auch nur ein leises Hinterfragen wurde von ihr
bestraft. Margit Norell gründete 1963 eine Arbeitsgruppe, die sich
den Ideen Karen Horneys widmete und 1968 gründete sie den
Svenska Föreningen för Holistisk Psykoterapi och Psykoanalys
(SFHPP). Nachdem sie dort ausgetreten war, gründete sie in den
siebzigen einen eigenen Studienkreis zu ihrer Objektbeziehungs-
theorie. Viele Kollegen, Anhänger, die sie therapierte und
supervidierte, baten darum, dabei sein zu dürfen. Und nun folgt
das, was in allen Sekten und Eliten praktiziert wird: Du musst bitten,
dabei zu sein, auserwählt zu sein. Norell ließ die Leute zappeln, ein
bis drei Jahre ließ sie sich bitten, bis sie sich herabließ, jemanden
aufzunehmen. Wer allerdings eigene Meinungen präsentierte, den
zartesten Versuch erwägte, ihr zu widersprechen, der konnte
gehen. Entweder man huldigte sie oder man war ihr Feind. Ihre
Tochter berichtet, Margit Norell ließ jeden Menschen sofort fallen,
der sie nicht bewundern wollte, der eine eigene Meinung hatte, in
allen Bereichen. Sie war die unantastbare Königin.
Der Journalist Dan Josefsson hat unglaublich gut und tief
recherchiert, mit Weggefährten und Verwandten von Margit Norell
gesprochen, mit den ehemaligen Mitgliedern ihres exklusiven
Studienkreises. Warm, mütterlich und gleichzeitig unerbittlich
streng, innig mit den Patienten verbunden baute sie
Abhängigkeiten auf.
»Für Margit hatte der vermeintiche Missbrauch eine zentrale
Bedeutung. Er untermauerte eine These, die einer eigenen
psychiatrischen Theorie noch am nächsten kam. Eigene Theorien zu
entwickeln, war im Grunde nicht Margits Spezialität gewesen.
Stattdessen bediente sie sich unterschiedlichster Ansätze und
kombinierte und modifizierte sie, bis sie sich in ihr Weltbild
einfügten.«
Dabei kombinierte sie verschiedene Theorien von Erich Fromm,
Frieda Fromm-Reich, die Theoreme von Siegmund Freud,
entwicklungspsychologische Ansätze von Winnicott, Fairbairn usw.
und ist die Pionierin der Theorie der Objektbeziehungen in
Schweden. Kindlicher Missbrauch war ihr Hauptthema, den sie
anscheinend bei jedem Menschen vermutete. Es ist unglaublich, wie
diese Frau die Menschen um sich herum manipulierte.
»Laut Christiansson war Sture zum Mörder geworden, weil sein
Unterbewusstsein von verdrängten Kindheitstrauma ›erzählen‹
wollte. Anschließend war der Mord ebenfalls verdrängt und zum
Trauma geworden, was laut Christiansson zwangsläufig zu neuen
Morden führen musste, mit denen sowohl die Kindheitstraumata als
auch die früheren Morde ›nacherzählt‹ wurden.«
Warum ist das Leben von Margit Norell und ihre Therapierichtung
so wichtig für den Fall Sture Bergwall? Ohne sie wäre Sture nie auf
die Idee gekommen, die Morde zu gestehen. Ohne sie hätte er sich
nie an nichtexistente Missbrauchszenen erinnert. Und ohne ihre
Sachverständigengutachten und die Gutachten ihres Kollegen Sven-
Åke Christiansson, der zu ihren glühenden Anhängern gehörte,
wäre Bergwall nie verurteilt worden. Christiansson vermarktete vor
Gericht seine Lehrsätze als die aktuellsten Forschungsergebnisse
im internationalen Feld.
Abwechselnd berichtet Dan Josefsson über Sture Bergwall, seine
Psychotherapeutin, den Prozess, die Wiederaufnahme nach fast 20
Jahren. Auch die Staatsanwaltschaft und die Richter haben sich
durch erhebliche Verfahrensfehler schuldig gemacht. In der Mitte
vom Buch findet man einige Fotos und ein paar Fotos von Berichten,
Notizen. 591 Seiten, ein komplexes Werk durch akribische Recherche
durch den Autor. Einer der größten Gerichtsskandale der
Geschichte, ein Sachbuch, das mir gut gefallen hat. Die Darstellung
ist sehr ausgedehnt dokumentiert, hätte für mich an manchen
Stellen etwas kompakter sein können. Für Laien sind die Grundzüge
der Psychoanalyse nach Freud und Ableger verständlich
zusammengefasst, hier habe ich geblättert. Wer sich für das
Thema Manipulation durch Indoktrination und Überzeugungskraft
durch vorgetäuschtes Fachwissen interessiert, der liegt hier richtig.
Wer zwischendurch blättert, weil ihn das Thema nicht interessiert,
findet immer wieder Anschluss.
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Der Serienkiller, der keiner war
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