Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Es war das lässig-arrogante Geräusch, das seine
Aufmerksamkeit auf die Frau lenkte.«
Man nennt ihn den Touristen, da dieser Serienmörder immer
woanders mordet, weltweit. Genau darum hat es lange
gedauert, bis man Zusammenhänge zwischen den Morden fand.
Er liebt Handtaschen, die sollte schon etwas Stil besitzen. Er
erwürgt seine Opfer, verschwindet mit der Handtasche, ergötzt
sich später am Inhalt seiner Trophäe, denn er ist der Meinung,
eine Frau trägt ihr Leben in der Handtasche. Doch er ist schlau.
Tagelang observiert er sein Opfer, stellt ihr nach, folgt ihrem
Parfumduft, beobachtet die Wohnung. Sie muss allein sein,
niemand darf ihr öffnen, kein Schimmer darf aus der Wohnung
dringen, keine Frau, die ein Kind abholt. Nun ist er in Venedig,
doch er sucht sich das falsche Opfer! Die Frau wehrt sich, sie ist
nicht wie die anderen, die alles mit sich geschehen lassen. Und
sie wehrt sich so heftig, dass er mit letzter Kraft den
Schirmständer greift, sie erschlägt.
»So hätte die Sache nicht laufen dürfen. Die Male zuvor war es
ganz anders gewesen. Die Auserwählten hatten sich gut
benommen und keinen Widerstand geleistet, im Gegenteil, vor
Entsetzen hatten sie sich ihm unterworfen, und das gefiel ihm
besonders gut.«
Selbst ziemlich angeschlagen, blutend, mit gebrochener Rippe,
angeschwollenen Eiern kommt er in seinem Unterschlupf an. Am
nächsten Tag kehrt er zum Tatort zurück, will Spuren verwischen.
Doch die Leiche ist verschwunden!
Pietro Sambo, einst Kommisario, Leiter der Mordkommission, vom
Dienst suspendiert, verlassen von seiner Frau, wird von
Geheimdienstleuten engagiert. Sie hatten diese Frau beobachtet,
eine Auftragsmörderin, die für eine kriminelle Gruppe arbeitet,
die Mafia. Sie haben die Frau beobachtet, den Touristen
aufgenommen, wissen nun wie er aussieht. Die Jagd auf den
Mann ist angeblasen.
Der Tourist ist sauer. Die zweite Phase seines Aufgeilens sind die
Zeitungsberichte. Der Tourist schlägt in Venedig zu! Keine
Meldung! Er kann die Stadt nicht verlassen, ohne eine
Medienspur zu hinterlassen, also hält er nach einem neuen
Opfer Ausschau. Dabei merkt er nicht, dass man ihm auf den
Fersen ist, er sich auf eine Falle zubewegt …
»Sie sind gefühllos, Sie verspüren weder Empathie noch
Gewissensbisse oder gar Schuld. Sie sind der König der Lüge und
der Manipulation. Wenn sie kein Mörder geworden wären, hätten
Sie auch als Chef eines Großunternehmens Karriere machen
können.«
Soweit recht spannend. Mit Genuss liest man Beschreibungen des
Venedigs neben dem Tourismus, erhält ein Gefühl für die
Einwohner, die wirkliche Stadt. Pietro Sambo ist ein Genießer, er
lässt uns an der venezianischen Küche teilhaben, weitab der
Speisekarte des Italieners um die Ecke, Polenta Biancoperla,
Cicchetti, Bigoli, Torta dea Marantega (im Glossar alles kurz
beschrieben), um nur einige zu nennen. Die Atmosphäre, die
Massimo Carlotto aufzubauen weiß, ohne aufgesetzt zu wirken,
hat mir sehr gut gefallen.
»›Das ist gängige Praxis‹, hatte ihm der Typ vom italienischen
Geheimdienst erklärt. … Pietro hatte ihn argwöhnisch gemustert.
›Wenn das allgemeine Praxis ist, bedeutet das ja, dass ihr es
ebenfalls tut – dass der italienische Staat seinen Angestellten
gestattet, Personen zu vergewaltigen.‹ - Der andere hatte
irritiert den Kopf geschüttelt. ›Ich weiß wirklich nicht, was ich von
dir halten soll, Sambo. Du bist ein guter Mann, aber manchmal
scheinst du echt schwer von Begriff zu sein. Der Staat? Wovon
zum Teufel redest du da überhaupt?‹«
Je weiter ich im Thriller voranschritt, umso mehr wurde ich
enttäuscht. Erst dachte ich, klasse, ein schräges Buch, mit viel
verstecktem Humor, Sarkasmus, etwas anderes als die üblichen
Geheimdienstthriller, Serienmördergeschichten. Es ist ein
Thriller, der den Spannungsbogen auf der Spitze halten will, es
gibt keine Ruhepausen für den Leser. Er beginnt mich
irgendwann abzustumpfen, zu nerven, weil es immer weitere
Absurditäten braucht, um den Rausch weiterzufahren. Der
Tourist wird von Pietro und seinem Kumpel entdeckt und durch
den Geheimdienst »engagiert«, da man weiß, die Mafia-Killer sind
ihm auch auf der Spur, denn in der Handtasche lagen
Informationen. Nun steckt der Tourist in der Klemme, wird von
der anderen Seite engagiert. Irgendwann weiß der
Geheimdienst, dass er für die andere Seite arbeitet und die
andere Seite weiß, dass er für den Geheimdienst agiert. Und die
wissen, dass die das wissen, dann wissen sie auch, dass die das
wissen und die wiederum wissen, dass sie es wissen usw. Im
letzten Drittel wird es irgendwie absurd und meine anfängliche
Begeisterung floss dahin.
»Venedig war in warmen Sonnenschein erwacht, der im Nu die
Dachziegel getrocknet hatte und sich nun über die
Wasserpfützen am Boden hermachte. Das strahlende Wetter
hatte auch die Minen der Menschen wieder aufgehellt. Regen
löste bei Händlern, Gastwirten und Touristen gleichmäßig
Verdruss aus. Nass und nebelverhangen gefiel die Stadt nur
einem bestimmten Menschenschlag – Leuten wie Pietro und Nello,
die sie nahmen wie sie war, ohne besondere Ansprüche an sie zu
stellen oder gar eine Gegenleistung für ihre Zuneigung zu
erwarten.«
In der Summe: Ein Roman mit viel intimen Venedig-Flair, dafür
lohnt es sich hineinzuschauen. Man muss schräge Bücher mögen.
Dafür ein Lob an den Verlag, der das Buch herausbrachten und
dem Folio Verlag, der es übersetzte. Mir hat der Thriller bis 3/4
gut gefallen, danach wurde es mir zu absurd, aber das ist sicher
Geschmacksache. Ein Muss für Venedigfans, ein Versuch für
Leser schräger Bücher.
Massimo Carlotto ist ein bekannter italienischer Krimiautor aus
Padua, weltweit übersetzt, einige Krimis wurden verfilmt. Er
gehörte in den 1970ern zur radikalen linken Bewegung. 1976 geriet
als Zeuge, als derjenige, der die Leiche fand, unter
Mordverdacht. Nach einem Freispruch wurde er in der Revision
verurteilt. Er war aber untergetaucht und nach jahrelanger
Flucht wurde er letztendlich in Mexiko inhaftiert. In der
Wiederaufnahme des Verfahrens wurde das zweite Urteil
aufgehoben und Carlotto kam frei. An dieser Stelle seines
Lebens begann er Krimis zu schreiben.
zeitgenössische Romane
Krims und Thriller
Historische Romane
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Kinder- und Jugendliteratur
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
Krimis / Thriller
Rezension
Der Tourist
von Massimo Carlotto