Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Ein wenig Glück
von Claudia Piñeiro
»Womöglich habe ich auch deshalb zugesagt, weil ich es im Grunde
wollte. In meinem tiefsten Inneren, in das ich selbst nicht hineinblicken
kann, wollte ich es. Vielleicht habe ich die ganze Zeit darauf gewartet,
dass etwas, jemand, eine unwiderstehliche Kraft, ein unausweichlicher
Umstand mich zwingen würde, zurückzukehren.«
Die Journalistin und Schriftstellerin Claudia Piñeiro aus Argentinien ist in
ihrer Heimat bereits sehr bekannt. Ihr neues Buch war für mich
betörend. Schuld strahlt in vielen Facetten, die eigene Schuld, die Schuld
zu verdammen, zu diskriminieren, nicht verzeihen zu können. Mary, die
eigentlich Maria heißt, kehrt zurück in die Heimat, Argentinien. Sie
arbeitet für das Garlic Institute, eine Kette von amerikanischen
Eliteschulen. Das St. Peter’s College in Argentinien stellt den Antrag
aufgenommen zu werden. Mary bewertet die Qualität von Schulen. Nun
reist sie zum St. Peter’s, nach 20 Jahren zurück in ihre Vergangenheit.
Gefärbte Haare, Kontaktlinsen, gealtert, sie ist sicher, man wird sie nicht
erkennen. Mary hat vor 20 Jahren ihren Mann verlassen und ihren Sohn,
letzteres hat sie nie ganz verkraften können. Was war geschehen? Es
gab einen Unfall, das Auto, die Bahnschranke, der Zug ... Mary erinnert
sich, es war ihre Schuld. Erst zum Ende des Romans erfährt der Leser,
was wirklich geschah. Mary war Lehrerin an dieser Schule. Ihrem
Schwiegervater gehörte eine große Klinik, ihr Mann war Arzt, eine
Bilderbuchfamilie? Mariano, ihr Mann, kaufte »ihr« ein Haus.
»Mariano stellte mich vor vollendete Tatsachen. Er hatte ausgesucht,
was er für uns beide für richtig befunden hatte, er hatte für uns
entschieden. Das heißt, eigentlich für sich. Trotzdem empfand ich es
zunächst wie ein unverdientes Geschenk und war ihm dankbar dafür.«
In Erinnerungen an ihre Vergangenheit sucht Mary fast vergessene Orte
auf. Eine Frau erkennt sie fast, sagt, sie erinnere Mary an diese
schreckliche Frau, die fortgegangen ist, diese üble Person. Aber die
hatte ja blaue Agen.
Mary besucht die Schule, beurteilt die Örtlichkeit, lässt sich die
Lebensläufe der Lehrer geben, hält mit ihnen Einzelgespräche. Ein
junger Geschichtslehrer steht vor ihr, es ist Marys Sohn.
»Er verharrt für einen Moment, der nicht in Sekunden zu fassen ist und
nicht in Worte. Von mir aus könnte es für immer so weitergehen - keiner
von uns rührt sich, keiner sagt ein Wort. Doch irgendwann schüttelt er
leicht den Kopf, als würde er aus einem Traum erwachen oder von einem
Gedanken zurückkehren, der ihn weit von hier weggeführt hat. Er
verabschiedet sich und geht fort. Mein Sohn geht fort.«
Präzise Sätze, wohlformulierte Gedanken, Mary führt uns in der Ichform
durch ihre Seele. Immer wieder die Schranke, die Kinder, das Auto, der
Zug ... Die glückliche Mary in Argentinien, das Unglück, die Schmach. Ihre
Umwelt isolierte sie, nicht ungleich ihre eigene Familie. Mary packte ihre
Koffer, verließ das Land. Tat sie es für sich, für andere oder wegen der
Schmach? Wollte sie sich nicht stellen, war sie feige?
Bereits der erste Satz hat mich in das Buch hineingezogen, das ich nicht
mehr aus der Hand legen konnte:
»Ich hätte Nein sagen sollen, dass es nicht geht, dass ich nicht wegkann.
Irgendwas sagen, egal was. Aber das habe ich nicht getan. Immer wieder
habe ich mir die Gründe aufgezählt, warum ich mich, statt Nein zu sagen,
am Ende doch bereit erklärt habe. Der Abgrund zieht uns an. Manchmal
ohne dass wir es merken. Wie ein Magnet. Dann treten wir an den Rand,
blicken in die Tiefe – und könnten springen. Ich bin so jemand. Ich
könnte vortreten, mich in die Tiefe stürzen, in die Leere, ins Nichts fallen
lassen, nur um – endlich – frei zu sein.«
Stück für Stück erfährt der Leser mehr. Mary wohnte in den USA mit
Robert zusammen, der gerade verstorben ist. Robert, ihre Stütze
gewesen, er hatte geholfen sie zu stabilisieren. Mary, die ihre Familie im
Stich ließ, sich von niemandem verabschiedete, einfach verschwand.
Plötzlich, nach 20 Jahren, steht Federico vor ihr, erwachsen, selbst ein
Vater, ihr kleiner Sohn. Claudia Piñeiro führt uns durch die Gefühlswelt
von Mary Lohan, durch Gefühle, geprägt von Schuld und Sühne, von
Sehnsucht nach dem Kind. Mit wenigen Worten schafft Piñeiro tiefe
Atmosphäre, einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Mary, die
Schuld auf sich geladen hat, die sie nie ganz abstreifen konnte, sucht ein
wenig Glück. Wird sie es an dem Ort ihrer Jugend wiederfinden? Eine
erzählerisch starke Geschichte, die beeindruckt.
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