© Sabine Ibing, Lorib GmbH         Literaturblog Sabine Ibing
Autorin Sabine Ibing
»Es war Bruder Peter, der ihn in Mathematik unterrichtete und ihn unentwegt an sein glückliches Schicksal erinnerte, der ihm gesagt hatte, dass er in einer Mülltonne gefunden worden war. Bruder Michael behauptete später, so stimme das gar nicht. "Du lagst nicht in der Mülltonne, du lagst neben der Mülltonne.« Über Kunst kann man diskutieren aber nicht streiten. Dieses Buch gehört zu der Klasse, die die Leserschaft spaltet in Liebhaber und Augenverdreher, die nichts mit dem Buch anfangen können. Der Roman beginnt mit der Freundschaft von Jude, JB (Jean-Baptiste) , Willem und Malcolm, die sich am College kennenlernen, zwei Doppelstockbetten in einem winzigen Zimmer teilen. Der farbige JB, wuchs ohne Vater auf, zwischen Mutter, Tanten und Großmutter, Einwanderer aus Haiti, die davon überzeugt sind, dass JB ein Genie ist. Der farbige Malcolm entstammt einer sehr wohlhabenden Intellektuellenfamilie. Er kämpft um Aufmerksamkeit und Zuwendung seines Vaters, da er meint, der würde nur seine Prinzessin, die Schwester, beachten. Der hellblonde Willem, wuchs auf einer Farm in Wyoming auf. Seine Eltern, Einwanderer aus Skandinavien, betreuen ein behindertes Kind, für Willem bleibt keine Zeit. Die Vierte im Bund ist Jude, das Findelkind aus dem Kloster. Den Freunden ist schnell klar, dass Judes Kindheit schrecklich war. Er will nicht darüber reden, schon gar nicht zieht er sich vor den Freunden aus, auch im Sommer trägt er lang an Arm und Bein. Jude hat eine leichte Behinderung mit seinen Beinen. Die Freunde studieren später angesagte Studiengänge, verlieren sich aber nie aus den Augen. Thanksgiving und Weihnachten verbringen sie zusammen. Jude studiert Jura. »Das Recht ist nicht immer fair. Verträge sind nicht fair, nicht immer. Aber manchmal ist das notwendig, weil es das Funktionieren der Gesellschaft sichert.« JB, wird Künstler der figurativen Malerei, bewohnt zunächst ein kostenfreies Loch. Architekt Malcolm lebt anfänglich bei seinen Eltern, später leistet er sich ein einfaches Appartement. »Er winkte ein Taxi heran. ›Ecke 71st Street und Lexington Avenue. ....‹ ›Glaubst du wirklich, wenn sie denken, du wohnst in Lex und nicht in Park, bist du nicht mehr street?‹, fragte er ihn. ›Du bist so ein Idiot, Malcolm.‹« Jude, steht eine steile Karriere als Anwalt bevor, und er mietet gemeinsam mit Schauspieler Willem, der nebenbei kellnert, ein abgewracktes Apartment in Downtown. »Nicht alle, die im Ortolan bedienten, waren Schauspieler. Oder besser gesagt, nicht alle waren noch Schauspieler. Es gab diese Restaurants in New York, in denen man vom Schauspieler, der nebenher kellnerte, irgendwie zum Kellner wurde, der früher mal Schauspieler war.« Diese vier Jungs (sauber ethnisch durchmischt, hetero und schwul durchmischt) gehen gemeinsam durch Feuer und Wasser, belegen nicht nur angesagte Traum-Studienfächer (Selbstverwirklichung), sie wohnen in NY und sie werden die angesagtesten, bestbezahlten Männer ihrer Branche. The American Deam! Irgendwie ist bei mir da schon ein wenig die Lampe ausgegangen. Das erste Drittel hatte gute Passagen, das muss bei aller Kritik erwähnt werden, und ab der Mitte, ich gebe es zu, habe ich angefangen, immer mehr zu blättern. Jude lernt Andrew kennen, einen namhaften Juristen, kinderlos. Er ist so angetan von Judes Persönlichkeit, dass er und seine Frau sich entscheiden, Jude zu adoptieren. »Wann ist der Punkt gekommen, an dem ein Land und die Menschen, die darin leben, die soziale Kontrolle über ihren Sinn für Moral stellen sollen? Gibt es einen solchen Punkt überhaupt?« Bis zu diesem Zeitpunkt erfahren wir viel über das körperliche Leid von Jude, seine unerträglichen Schmerzen in Beinen und Rücken, immer wieder kehrende Entzündungen.  Wir erfahren etwas über den völlig vernarbten Rücken von Jude, er bearbeitet seine Arme regelmäßig mit Rasierklingen, auch die sind völlig vernarbt. Andy, sein neuer Arzt, taucht auf, der Juds Beine behandelt und ihn versorgt, wenn Jude zu fest geritzt hat, fast verblutet. Auch er vergöttert Jude. 958 Seiten Jude, Jude und seine Leiden, seine Selbstmordgedanken, seine Selbstverachtung ... denn alle anderen Protagonisten sind Statisten in kleinen Rollen. Jude, das Findelkind, aufgewachsen im Kloster mit hoher Bildung. Aber die Klosterbrüder verprügelten ihn bis zur Bewusstlosigkeit, missbrauchten ihn seit frühester Kindheit. Einer ist besser, fühlt mit Jude, so glaubt er wenigstens, Bruder Luke. Der haut mit Jude aus dem Kloster ab, als dieser circa neun Jahre alt ist, erklärt dem Jungen, sie würden sich ein kleines Haus am Waldesrand kaufen. Doch Luke hat kein Geld um ein Haus zu erwerben, das muss Jude erarbeiten: »Mal war es nur einer, mal waren es mehrere. Die Männer brachten ihre eigenen Handtücher und ihre eigenen Laken mit, die sie über das Bett spannten, bevor sie anfingen, und wieder abzogen und mitnahmen, wenn sie gingen.« Sie ziehen von Stadt zu Stadt, von Motel zu Motel, bis Luke, der auch selbst Jude missbraucht, schlägt, von der Polizei erwischt wird. Jude, 14 Jahre alt, kommt ins Heim, wird weiter missbraucht von Erziehern und Lehrern, bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Er hält es nicht mehr aus, schafft es, zu fliehen, ernährt sich wodurch wohl? Straßenstrich. Eines Tages greift ihn der Psychiater Dr. Trayler auf, sperrt ihn in den Keller, missbraucht ihn, verprügelt Jude, verkauft ihn an andere Männer. Bis Jude fliehen kann: »Er rannte. Dr. Trayler folgte ihm und manchmal beschleunigte er, und er rannte schneller. Aber er konnte nicht mehr so gut rennen, und er stürzte und stürzte wieder. ... Als er zum letzten Mal stürzte, konnte er nicht mehr aufstehen. ... Und dann hörte er den Motor wieder anspringen, und er spürte, wie die Scheinwerfer auf ihn zukamen, zwei Feuerströme wie die Augen des Engels, und er drehte den Kopf zur Seite und wartete, und das Auto fuhr auf ihn zu und dann über ihn hinweg, und es war vollbracht.« Judes Beine sind völlig zerstört. Eine Sozialarbeiterin kümmert sich um den Jungen. Nun wird alles gut, ein neues Leben beginnt für den intelligenten Sechzehnjährigen. Er kommt aufs Collage und lernt seine Freunde kennen. Jude ist nun ein erfolgreicher Anwalt, doch im Inneren ist er ein Wrack. Er hält sich für einen schlechten Menschen und sehnt sich nach Liebe, ritzt ständig seine Arme. Die Freunde sieht er selten. »Er sitzt zu Hause und schneidet sich in Stücke, er besteht eigentlich nur noch aus Narbengewebe, sieht aus, wie ein verdammtes Skelett, und wo bist du Willem?« Alle Menschen um ihn herum bewundern Jude wie einen Gott. So viel Leid, so viel göttliche Bewunderung, so viel Erfolg, so viel Brillanz ... das alles ist ziemlich dick aufgetragen. Kurz vor Ostern gelesen kommen Gedanken auf: Jude – Jesus – göttliche Verehrung – Leiden am Kreuz. Und alles wird wiedergekäut, wahrscheinlich mit Absicht, um das Leid, wie Filoteig auszuwalzen. »Doch was Andy nicht begriff: Er war ein Optimist. Monat für Monat, Woche für Woche entschied er sich dafür, die Augen aufzuschlagen, einen weiteren Tag in der Welt zuzubringen. Er tat es, wenn er sich so schrecklich fühlte, dass die Schmerzen ihn in einen anderen Zustand zu versetzen schienen, einen, in dem alles, selbst die Vergangenheit, die zu vergessen er sich so mühte, zu einem grauen, aquarellartigen Schleier verschwamm.« Jude schmachtet nach Liebe und Geborgenheit, die Freunde haben Beziehungen, nicht Jude. Freundschaft ist keine Liebe, keine körperlich spürbare Nähe, Geborgenheit. Er kann aber niemanden an sich heranlassen. Sein Körper ist zerschunden, er ist so hässlich, so schlecht, niemand kann einen solch ekelhaften Mann lieben, so Judes Selbsteinschätzung. Doch dann trifft er Caleb und Jude weiß von Anfang an, welchen Preis er dafür zahlen muss, am Abend nicht allein zu sein, Wärme in der Nacht zu finden ... »Er hatte die ganze Zeit über auf eine Strafe für seine Hybris gewartet, dafür, dass er geglaubt hatte, er könne haben, was alle anderen haben, und nun war sie endlich gekommen. Das hast du davon, sagte die Stimme in seinem Kopf. Das hast du davon, dass du dich für jemanden hältst, der du nicht bist, dass du glaubst, du wärest nicht schlechter als die anderen.« Zum Ede findet Jude seine Liebe. Einer seiner großen Bewunderer möchte mit ihm leben. Der ist eigentlich nicht homosexuell, nimmt aber an, Jude sei es und nimmt eine sexuelle Beziehung in Kauf, die eigentlich nicht seine ist. Jude denkt, er müsse sich für diese Liebe opfern, denn Sex ist für ihn widerlich, verständlicherweise lediglich ein Akt der Gewalt. Jude wird sich niemals einer Person öffnen, über seine Gefühle sprechen. Andy, sein Arzt rät ihm dazu, zu einer Psychotherapie, die Jude nie antreten wird. Jude bleibt mit seinem Kummer allein. Ich habe mich gefragt, warum ich nicht heule, wie viele andere Leser, nicht berührt bin. Für mich ist Jude ist nicht authentisch. In meinem Beruf habe ich viele Menschen mit leidvollem Hintergrund betreut, die erlebten ein Körnchen von dem, was Jude geschehen ist, waren aber wesentlich zerstörerischer mit sich selbst. Vor kurzen haben mich Bücher wie »Miss Terry«, »Aquarium«, »Schwarze Seelen« unfassbar berührt, aber auch »Bitter Wash Road« und »Montana«. Warum perlt dieses Buch ab, gelangweilt? Reduzieren wir diese fast 1000 Seiten auf ein Gerüst: Jude, der Hauptprotagonist. Was erfahren wir von ihm? Seine Vergangenheit und seine Leidensgedanken. Wir wissen nicht wie er aussieht, erfahren nur etwas über sein todschickes teures Apartment und dass er ein brillanter Anwalt ist. Was macht er überhaupt? Wer befindet sich in seinem täglichen Umfeld, was passiert in der Welt? Von allen Nebenprotagonisten wird Jude vergöttert. Es sind seine Freunde. Aber wie agiert er normal in seiner Umwelt? Nach Jude kommt lange gar nichts. Wir haben ein paar Nebencharaktere, von denen wir nichts wissen, nicht mal wie sie aussehen, wir kennen lediglich ihren Beruf, ihre Brillanz (allesamt!!) und ihre Vergötterung für Jude. Die Juristen sind ausschließlich gute Menschen, von der gerechten Seite. Die Antagonisten dürfen nicht fehlen, die Menschen, die Jude zerstörten: der Geistliche Luke, der Psychiater Dr. Traylor, der Kollege Caleb und hunderte Unbekannte. Von ihnen erfahren wir nichts, gesichtslose Täter. Was bleibt, ist Jude. Ein kleines Geschmäckle bleibt mir zurück: Alle Guten sind intelligent, schön, beliebt und erfolgreich, extrem reich. Die Pädophilen sind Kirchenmänner, Lehrer, Erzieher, Psychiater und ein böser Anwalt. Es wird gesagt, dies sei ein Gesellschaftsroman. Welche Gesellschaft? Ich schätze, Jude ist in den Fünfzigern oder Anfang der Sechziger geboren, das Buch endet anscheinend in der heutigen Zeit. Allerdings erfährt man nichts über diese Gesellschaft, über die Zeit, keine Ereignisse, keine Strukturen. Die Geschichte könnte auch in Berlin, London, Paris oder sonst wo spielen, zu einer anderen Zeit. Das sei ein Familienroman, behaupten andere, seltsam, um welche Familie soll es sich drehen? Ein Buch über Freundschaft, sagen andere. Wenn Freundschaft als Form der Vergötterung eines Menschen gesehen wird, dann bitte. Für mich ist es schlicht ein überzogenes Drama, das bei mir durch die Übertreibung an jeder einzelnen Stelle nicht landen konnte, ein plakatives Klischee folgte dem nächsten. Künstliche Überspitzung, um etwas zu vermitteln? Es gab genügend Bücher, die mit dem Staubkorn dieses Textes mehr bewirkt haben. Ein Roman, der viele Herzen bewegte und der auf jeden Fall gute Passagen besitzt, mich persönlich aber nicht überzeugen konnte. zeitgenössische Romane Krims und Thriller Historische Romane Fantasy, Fantastic, SciFi, Utopien Dystopien Sachbücher (für jedermann) Kinder- und Jugendliteratur
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben zeitgenössische Romane Rezension
Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara