Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Die Füße baumelten knapp über dem Boden.
Abgesplitterte, rote Lackreste auf den Zehennägeln. Waden und
Knie nackt.«
Zwei befreundete Autorinnen aus dem Krimigenre schreiben
gemeinsam einen Thriller. Petra Ivanov, die lange recherchiert,
erzählerisch detailliert ihre Figuren und die Story aufbaut und Mitra
Devi, die mit unglaublichem Tempo, spannungsgeladen durch ihre
Krimis fegt. Kann das funktionieren, wenn nicht nur erzählerisch
verschieden gearbeitet wird, ebenso recherchetechnisch, sondern
die Autorinnen sogar im Aufbau von Romanen abweichend
arbeiten? Mitra Devi ist eine Planerin. Sie ist eine detailversessene
Plotterin: Jedes Kapitel ist genau geplant, jede Szene darin
ausgearbeitet, bevor sie zu schreiben anfängt. Petra Ivanov hat
eine Idee, eine Figur, einen Handlungsstrang im Kopf, Recherchen
zum Thema auf dem Schreibtisch und dann geht es los. Man nennt
das Bauchschreiben. Die meisten SchriftstellerInnen planen im
Mittelweg dieser Arbeitsweisen. Zwei Extreme prallen aufeinander,
nur das Genre ist gleich.
Mitra Devi: «Petra schreibt mehr aus dem Bauch heraus, lässt sich
von den Figuren leiten. Ich hingegen brauche ein Storyboard, bin die
Planerin, die schon am Anfang wissen muss, wer der Täter ist und
warum.» Jeder hat in seiner Art seinen Teil des Thrillers
geschrieben, Kapitel um Kapitel abwechselnd. Um es
vorwegzusagen, »Schockfrost« ist ein guter Thriller.
»Sarah versuchte, Schwartz davon zu überzeugen, dass sein
Problem nicht im Außen, sondern in seinem Inneren lag. Es gelang
ihr nicht. Noch nicht. Aber sie war zuversichtlich. Sie hatte schon
viele Patienten wie ihn gehabt, meist spielte sich in deren Köpfen
Ähnliches ab.«
Die Psychiaterin Sarah Marten wohnt mit ihrem Sohn David, genannt
Dave, zusammen. Sie ist geschieden von Kaspar Marten, der als
Psychiater in einer Klinik in Zürich arbeitet. Beide vertreten
verschiedene Auffassungen zum Patientenrecht von psychisch
erkrankten Personen. Die Autorinnen haben hier sehr fein die
gegensätzlichen Meinung zur Selbstbestimmung psychiatrischer
Patienten herausgearbeitet, mit allem Für und Wider. Das hat mir
sehr gut gefallen.
»In diese Geschichten hat er sich richtig verbissen. Und
Drachentöter brauchen selbstverständlich keine Medikamente. Er
fing an, sein Haldol zuerst unregelmäßig zu nehmen, dann setzte er
es ganz ab. Die Folgen zeigten sich schnell. Es kam zum Rückfall.
Selbstgespräche, vernachlässigte Körperpflege,
Verhaltensauffälligkeiten, schließlich Wahnvorstellungen und
Halluzinationen.«
Ein Patient von Sarah ist Georg Schwartz, den ihr Mann gern
einweisen würde, Sarah aber der Meinung ist, dass er gut allein in
seiner Wohnung klarkäme. Dieser psychotische Patient warnt Sarah,
sie sei in Gefahr. Er will sie beschützen. Sarah hat viel zu tun mit
ihrem Job, einem pubertären Sohn zu Hause und am Wochenende
kümmert sie sich um ihre behinderte Schwester, Rebekka, holt sie
aus dem Pflegeheim. Mit dem Künstler Till führt sie eine Beziehung.
Bertram Lutz, ein Hypnotiseur, zieht als Untermieter in Sarahs Praxis
ein. Er stellt fest, in den Räumlichkeiten riecht es komisch.
»Er übergab sich ins Gebüsch, würgte, erstickte fast an seinem
Erbrochenen. Er hustete, heulte. Wischte alles mit dem T-Shirt ab,
Kotze, Regen, Tränen.«
Plötzlich verschwimmen Gegenstände vor dem Gesicht von Sarah,
sie hat Kopfschmerzen, greift und tritt daneben, fühlt sich müde,
wie in Trance. Was ist los? Ist sie überarbeitet? Auch Dave hat
Probleme. Er trifft im Chat auf ein zuckersüßes Mädchen, agiert
hinter dem Rücken seiner Mutter, trickst, als sie ihn spätabends in
eine Diskothek einlädt. Mit Exmann Kaspar hat Sarah Ärger,
beruflich, wie auch um Dave. Am Samstag will sie Rebekka abholen,
doch die ist verschwunden. Irgendjemand hat sie in ihrem Rollstuhl
in die Ergotherapie geschoben, die am Wochenende geschlossen ist.
Wer denkt sich solche Spielchen aus? Till verlang mehr Zeit und
Aufmerksamkeit von Sarah. Nun wird Sarah auch noch von der
Heimleitung beschuldigt, ihre Schwester zu misshandeln, die
merkwürdigerweise mit blauen Flecken am Sonntag zurückkam.
»Zweieinhalb Dioptrien links, fünf rechts. Und eine
Hornhautverkrümmung.«
Alles um Sarah hat sich gegen sie verschworen, Akten
verschwinden, Medikamente, ihr Kopf fühlt sich an wie ein
Heliumballon. Was geht vor? Der Thriller geht im schnellen Tempo
voran und ist spannend. Das mit den Kontaktlinsen habe ich nicht
ganz kapiert. Sarah läuft tagelang mit vertauschten Kontaktlinsen
herum, mehrere Dioptrien Unterschied, plus Hornhautverkrümmung
auf einem Auge, hat einen verschwommenen Blick. Bei einem
Unterschied von 0,5 Dioptrien merke ich die unscharfe Sicht sofort,
denke direkt an vertauschte Linsen, was in der Schnelle hin und
wieder vorkommt. Das war nicht glaubhaft. Ansonsten schön
beschrieben die unscharfe Wahrnehmung, die unter
Medikamenteneinfluss geschieht. Insgesamt fand ich den Thriller
spannend, allerdings ist man ab der Mitte schnell auf der Spur des
Täters, es kommt ja nicht soviel Personal in diesem Roman vor, die
Auswahl ist klein. Ein immer wiederkehrender Hinweis setzt das Motiv
und dann muss man nur noch eins und eins zusammenzählen,
Ausschlussverfahren, fertig. Um den Thriller als Pageturner oder
superspannend zu bezeichnen, war mir das Ende zu offensichtlich.
Mich hat allerdings das Thema versöhnt. Ein wichtiger Beitrag zum
Verständnis der Psychiatrie, zur Selbstbestimmung der Patienten ist
hier gelungen. Man kann sich Gedanken machen, ob man der
Meinung von Sarah oder der von Kaspar Marten folgt. Georg und
Bertram sind schräge Typen, die dem Ganzen eine Note Humor
geben. Ein Triller, den man lesen sollte.
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Rezension
Schockfrost
von Petra Ivanov und Mitra Devi
Mitra Devi
Petra Ivanov