Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Schwarze Seelen
von Gioacchino Criaco
»Wir entschieden uns dafür, in Freiheit, aber bewaffnet zu leben, bereit
uns zu verteidigen und anzugreifen. Ehrenmänner und Bullen waren
gleichermaßen unsere Feinde.«
Organisiertes Verbrechen in Kalabrien. Die Geschichte der Ndrangheta
aus der Innenansicht von einem, der hautnah dabei war. Der Autor
Gioacchino Criaco, 1965 geboren in Kalabrien, stammt aus einer
Hirtenfamile, arbeitete über 30 Jahre als Rechtsanwalt in Mailand. Sein
Vater wurde bei einer Blutfehde ermordet, sein Bruder war einer der 30
meistgesuchtesten Kriminellen in Italien. Und so klingt dieser Bestseller aus
Italien, in der Ichform geschrieben, wie eine Autobiografie. Und genau das
macht den Reiz aus.
Drei Freunde wachsen in dem kleinen kalabrischen Bergdorf Africa (hier
ist der Schriftsteller geboren) auf. Das Dorf wird später umgesiedelt, die
Einwohner entwurzelt.
Bevor sie 20 Jahre alt sind, hatten sie: »Bereits gestohlen, Überfälle
begangen, Menschen entführt und getötet. Wir lehnten die Welt, in die wir
lebten ab, weil sie nicht die unsere war, und nahmen uns, was wir wollten.«
Den Namen des Icherzählers erfahren wir nicht, nur die seiner Freunde,
Luciano und Luigi. Sie nennen sich Söhne der Wälder. Dichte, unwegsame
Waldungen, Pinien, Eichen, Buchen, Lärchen, ein Gebiet, das nur der
begeht, der sich auch auskennt. Immer wieder werden die drei Jungen als
Erwachsene zurückkehren, in die Einsamkeit ihrer Wälder, ihre Wunden
lecken, sich verstecken. Die Liebe zur Natur, zu diesen Bergen, durchzieht
den gesamten Roman. Ein Ort sich zu erden, in der Kälte, der Kargheit und
Schönheit.
Criaco beschreibt die kärgliche Landschaft der Ziegenhirten, Häuser, in
denen man nicht aufrecht stehen kann, die nur ein Zimmer zum Leben und
Schlafen haben, die Zinkwanne, die er als Luxus beschreibt, in der alle
sechs Familienmitglieder in lauwarmen Wasser einmal wöchentlich baden,
natürlich alle in derselben Brühe. Um das karge Leben ein wenig
aufzubessern, verdienen sich die Hirten mit Geiselnahmen Geld dazu, bzw.
sie verstecken Geiseln und gesuchte Kriminelle in Ställen in den Bergen für
die Mafia. Die Geiseln reden sie schlicht mit Schwein an. Manche dieser
Geiseln leben über Jahre mit den Hirten, weil die Verwandten nicht zahlen
wollen. Manche dürfen mit ins Dorf kommen, gehen mit den Geiselnehmern
wandern, völlig traumatisiert sind sie nicht in der Lage, abzuhauen. Manch
einer kommt nach Jahren zu einem Freundschaftsbesuch zurück.
Die drei Jungen möchten mehr vom Leben, das Haus der Eltern
ausschachten, darin stehen können, anbauen, ein eigenes Zimmer
besitzen und das ein oder andere nützliche Ding anschaffen, wie eine
Zinkwanne. Aber das Wichtigste, sie wollen heraus aus diesem Leben und
verstehen, dass nur Bildung zählen kann. Sie sind fleißig, wissbegierig.
Aber die Schule kostet Geld, das ihre Eltern nicht haben. Der Chef der
Ndrangheta gibt ihnen die Möglichkeit des Geldverdienens mit kleinen
Jobs, bis hin zu Mord. Alle im Dorf sind vom Don abhängig, wer sich gegen
ihn stellt, wird vom Blei durchsiebt, wie Lucianos Vater, den er nie
kennenlernte. Wer hier lebt, stirbt aus Armut oder im Kugelhagel, so
berichtet der Erzähler. Irgendwann machen die Jungen ihre eigenen
Geschäfte, sie sind schwarze Seelen geworden. Sie studieren in Milano und
steigen ins internationale Drogengeschäft ein, legen sich mit den ganz
Großen an. Und sie mogeln sich durch die Justiz.
»Die Übereinkunft sah für mich keine Haftstrafe vor.«
Fasziniert, fast voyeuristisch, zieht der Autor von der ersten Seite an den
Leser in die Geschichte hinein, in das Dorf Africo, in die Welt der Berge, in
die Welt des Dons. Ein Milieu aus Angst, in der Kriminalität zum normalen
Leben gehört, wenn man überleben will. Große Erzählkunst, mit der der
Autor berichtet, nicht wertet. Man ist erstaunt über das einfache Leben
der Hirten und über ihre Dreistigkeit, mit der sie Entführungsopfer wie die
Schweine halten. Die drei Jungen wollen mehr vom Leben. Sie wachsen in
einer Umgebung von Unrecht und Gewalt auf, wollen dies Leben hinter sich
lassen, studieren. Doch wie soll man das Studium finanzieren? Die Kette
der Gewalt schließt sich und irgendwann gibt es keine Retour, sie Sitzen im
Drogengeschäft. Doch die Obrigkeit schießt zurück.
Der Leser erfährt, die Jungen wollten mit der Tradition brechen, feine
Leute werden, Juristen, Mediziner. Doch wie kann man aus einem Kreis
ausbrechen, wenn man längst Teil des Kettengliedes ist? Und ewig lockt
das große Geld.
»Ein gewisses Milieu ertrüge es nicht, dass es im Restaurant, im Stadion, bei
Konzerten, überall, an zweiter Stelle kam, nach den arroganten und
unwissenden Politikern und sogar hinter den stinkenden Bauern und
Hirten, die mit Straftaten reich geworden waren und mit den ersten
wetteiferten. Die sogenannten gebildeten Klassen, die vor Moral trieften,
gemeinsam mit politischen Kreisen, die auf kürzestem Weg zur Macht
gelangen wollten, wären bereit, zum Angriff überzugehen.«
Dieser Roman ist ein Stück Italien, ein Einblick in die italienische
Gesellschaftsordnung. Und sicherlich ist ein Teil der Geschichte von
Gioacchino Criaco. Man fragt sich beim Lesen, was ist wahr, was Fiktion? Ist
dies in großen Teilen die Geschichte seines Bruders? Letztendlich ist es
egal, denn dies ist trotz aller Fiktion die Geschichte der Ndrangheta. Ein
hervorragendes Buch, um die schwarze Seele Italiens zu verstehen,
spannend geschrieben bis zur letzten Seite. Die Sprache ist nüchtern,
sachlich, liest sich wie ein Tatsachenbericht, sicher mit Absicht so gewählt.
Der Autor will nichts entschuldigen, sich nicht rechtfertigen. Vielleicht
möchte er erklären, die Strukturen einer Parallelgesellschaft.
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