Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen.«
Viele Kinder werden geboren, nur wenige überleben. Krankheit,
Ungeziefer, Hunger, Aberglaube, Inquisition. Mütter sterben bei der
Geburt, gehen in Flammen auf, spätes Mittelalter, die Jahrzehnte des
Dreißigjährigen Krieges sind angebrochen. Der Müller Claus Ulenspiegel,
der eigentlich keiner sein will, in Bücher vernarrt ist, sie kauft oder stielt,
ein kleiner Philosoph, ein Mann, der sich für übersinnliche Phänomene
interessiert, gerät ins Visir der Obrigkeit. Es ist die Zeit der
Hexenverfolgung. Eine Hexe wird in jedem Dorf gefunden, unter der
Folter gesteht sie, muss weitere verraten.
»›Ja natürlich ‹, ruft Doktor Tesimond. ‹Warum hätte er sonst gestehen
sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!‹«
Dr. Tesimond, Hexencommissarius ad hoc, der einst den englischen König
in die Luft sprengen wollte, kommt ins Dorf. Der Müller, dieser komische
Typ, natürlich muss der mit dem Teufel verbunden sein. So wird der
Müller gehenkt. Tyll Ulenspiegel (nicht zu verwechseln mit Till
Eugenspiegel), der schwächliche Sohn von Claus, vom Knecht ständig
dranglisiert, muss gegen den Vater aussagen, die Hinrichtung mit
ansehen, wird aus dem Dorf gejagt, ein Hexensohn.
»Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den
schützt keine Gilde und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer
Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird
denken, du hättest Feuer gelegt. Bist du in einem Dorf und etwas wird
gestohlen, mach dich ebenfalls davon.«
Der traumatisierte Junge findet Unterschlupf bei Gauklern. Er geht auf
dem Seil, jongliert mit Bällen, erzählt Geschichten, singt, zieht durch die
Lande, wird ein Zyniker, ein Kritiker der Zeit, einer der mit Worten zu
manipulieren weiß. Tyll und Dr. Tesimond werden sich wieder über den
Weg laufen, viele Jahre später.
»Ich lach nicht über den Kaiser, ich lach über dich. Wieso bist du so fett?
Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?«
Schwedenkönig Gustav Adolf, Pfalzgraf Friedrich V., der »Winterkönig«,
der den Krieg letztendlich auslöste und viele andere Persönlichkeiten
treffen auf Tyll. Die Witwe von Friedrich, Elisabeth Stuart, zeigt sich
später, völlig verarmt, sehr trickreich, die Etikette umgehend, während
der Verhandlung zum »Westfälischen Frieden« in Osnabrück. Am Ende
der Verhandlung streckt die Königin allen die Zunge heraus, sie wollte
doch nur von den herabfallenden Schneeflocken kosten.
Interessanterweise wird Martin Luther selbst nicht mit einem Wort in
diesem Buch erwähnt. Mittendrin immer Tyll, der Narr, der sagen darf,
was will, ohne geköpft zu werden. Einen großen Teil des Weges begleitet
ihn die hübsche Bäckerstochter Nele, mit der er zusammen aus dem Dorf
floh, die die Menschen mit ihrem Tanz verzaubert. Sie wird später eine
gute Partie machen. Tyll ist ein Überlebenskünstler, der als Mineur die
Verschüttung in einem Tunnel überlebt, die Pest, den Krieg, sein freches
Mundwerk; er ist ein Soziopath.
Daniel Kehlmann beherrscht die Erzählkunst par exzellente. Erzählt wird
aus unterschiedlichen Perspektiven. Elisabeth (Stuart) und Friedrich von
Böhmen, der Gelehrte Jesuit und Magier Athanasius Kircher, der ein Mittel
gegen die Pest sucht und den letzten Drachen, der obskure Ideen
verfolgt, wie, mit Drachenblut die Pest zu bekämpfen. Gaukler, einfache
Menschen, das gesamte Spektrum der Gesellschaft kommt zu , Tyll ist nur
eine Figur von ihnen. Über Tylls Ulenspiegel wird mal in der dritten Person
berichtet oder er kommt selbst zu Wort, Tyll, der das Böse verkörpert. Er
taucht auf, stiftet Unruhe und verschwindet. Der Krieg ist immer präsent:
Hunger, Pest, Flucht, Schlachten, niedergebrannte Städte, durch
entvölkerte Landstriche, der Ausnahmezustand schlechthin, indem Böses
und Aberglaube gedeihen. Große Erzählkunst, feine Bilder und
Charaktere, subtiler Humor, besser geht es nicht.
»Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich.
Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht!«
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Rezension
Tyll
von Daniel Kehlmann
Gesprochen von: Ulrich Noethen
ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. 15
Min.