Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Eines frühen Junimorgens kommt er nach Hause. Er
biegt in seine Straße. Friedliche Stille, wenn auch trügerisch. Die Autos
parken noch immer unter dem Weißdorn an der Bordsteinkante.«
Vor dem Amsterdamer Hauptbahnhof prügeln sich zwei Frauen direkt
vor eine Baugrube. Eine schubst die andere in die tiefe Grube, mit voller
Absicht.
»Sie niederzuschlagen, war wunderbar.«
Warum hat Marie Linas Mutter damals einen Mord gestanden, den sie
nicht begangen hat? Psychologisch fein aufgebaut, erzählerisch stark,
ein Roman über das menschliche Handeln, ein Roman über drei Frauen.
Was treibt den Menschen? Eine von ihnen gesteht einen Mord. Weshalb
nimmt sie eine Schuld auf sich, ohne beteiligt zu sein? Die zwei anderen
Frauen sind Mörderinnen. Was trieb sie zu der Tat? Es handelt sich nicht
um einen Krimi, das sei vorweggestellt, die Geschichte versucht,
menschliche Abgründe zu erfassen.
»Die kleineren Vögel lassen sich von keinem Flugzeug beeindrucken,
aber wehe, ein Kaiseradler ist in der Nähe. Möwen, Rebhühner, Fasane,
Wachteln und besonders auch die Kanadagans: Selbst, wenn sie noch nie
im Leben einen Kaiseradler gesehen haben, treibt die Angst vor diesem
Vogel sie um.«
Der 90-jährige Mijnher Bruno Mesdag wurde in seiner Wohnung
erdrosselt. Sofort wird seine Haushaltshilfe, Louise Bergmann,
verdächtigt, aus Habgier den reichen Mann getötet zu haben. Es folgt
ein hartes Verhör, Schlafentzug, ein Geständnis. Vor Gericht widerruft
Louise, man habe sie erzwungen, zu unterschreiben, man glaubt ihr
nicht. Marie Lina ist neun Jahre alt, als ihre Mutter verurteilt wird und ins
Gefängnis gehen muss. Ihr Vater lässt sich scheiden und das Leben der
beiden verändert sich völlig.
»Mit diesem einen meint sie den Bussard, der im vorigen Jahr in Gestalt
eines Eisklumpens im Fahrwerk einer KLM-Maschine aus Rio de Janeiro
ankam. Das Fahrwerk ließ sich nicht mehr ausfahren. Das führte zu einer
Bauchlandung neben der Bahn. Abgesehen vom Bussard hatten alle
Insassen überlebt.«
Rinus Caspers, ein Gärtner, Marie Linas Mann, arbeitet als
Vogelvertreiber am Flughafen Schiphol. Auf den ersten Blick scheint alles
in der Beziehung. Eine Ehe ohne Höhen und Tiefen, ein geordnetes
Leben, Zufriedenheit. Rinus berichtet seiner Frau von der Arbeit auf den
Grünflächen in der Umgebung der Start- und Landebahnen, von seinen
Freunden, den verschiedenen Vögeln. Er hat die wichtige Aufgabe, die
Tiere von den Flugzeugen fernzuhalten, damit sie nicht in die Trieb- und
Fahrwerke geraten, eine böse Sache nicht nur für die Vögel.
»Friedliche Stille, wenn auch trügerisch …« Marie Lina hat ihre Mutter nie
verstanden, auch nicht ihre Entscheidung, sich völlig zu isolieren. Im
Strang der Mutter erfahren wir etwas über das niederländische
Justizsystem, über die sehr fortschrittlichen Gefängnisse. Ein
Ausbruchsversuch wird nicht bestraft, sondern als »philosophisches
Menschenrecht« legitimiert. Marie Lina führt ein normales Leben. Doch
unter der Decke ihrer Seele rumort ein unverarbeitetes Trauma. Marie
Lina hat ihre Mutter verloren: sie will sie verstehen. Sie will wissen, wer
die Schuld trägt. Und sie will verstehen, warm einer tötet, nichts sagt,
wenn ein anderer büßen muss. Tag für Tag Gedanken, die sie nicht
loslassen, Wut, die nicht herausdarf.
»Es war einmal ein Vater, der zu seinem Kummer keine Tochter hatte,
dafür aber drei Söhne. Eines Tages brachte der jüngste, Rinus, ein
Mädchen nach Hause, bei dessen Anblick er sofort dachte: Komm rein,
mein Kind, komm rein, komm rein, du ahnst ja nicht, wie willkommen du
bist! Rinus, damals achtzehneinhalb, war der schüchternste und
stoffeligste junge Mann, dem der Vater je begegnet war.«
Es gibt einen Strang, den ich nicht verstanden habe. Rinus, der jüngste
Sohn, bringt eines Tages die hübsche Hortense mit nachhause, die aus
Curaçao stammt. Der Vater und die drei Brüder sind von der Frau
fasziniert. Nach einer kurzen Liaison mit Linus heiratet sie den einen
Bruder, Jahre später den anderen. Was dieser Nebenstrang mit der
Grundgeschichte zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Um zu erklären,
dass Marie Lina aussieht wie Hortense in Blond mit heller Haut? Hortense
ist eine Schwägerin, die in der Geschichte keine Bedeutung hat. Als Leser
erwartet man, eine Figur, die anfangs lang und breit eingeführt wird, soll
später eine Bedeutung haben. Kommt nichts, dann fragt man sich, wozu
es gut war. Gilt der Charakter lediglich zum Erzählen, damit sich das Buch
füllt?
Der Roman ist in auktorialer Perspektive erzählt, Erzähldistanz und
Erzählhaltung wechseln, wie auch das Tempus. Margriet de Moor erzählt
die Geschichte auf den ersten Seiten in Kurzform. Danach geht sie in die
Tiefe und blättert Stück für Stück ihre Figuren auf. Sie kennt ihre
Protagonisten bis in die letzte Ecke ihrer Seele. Und genau das macht das
Buch lesenswert. Seite für Seite versteht der Leser Motive, die Autorin
nimmt uns mit auf die Suche nach dem Warum. Warum macht einer das?,
fragen wir oft, während wir die Zeitung lesen. Er wird seine Gründe
haben.
Margriet de Moor gehört zu den bedeutendsten niederländischen
Autoren der Gegenwart. Sie studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich
dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman «Erst grau dann weiß
dann blau» wurde ein großer Erfolg.
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Rezension
Von Vögeln und Menschen
von Margriet de Moor