Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Ob ich noch irgendwas dabeihabe – ›Schlüssel,
Handy, Waffen?‹, fragt mich der uniformierte Beamte in
gelangweiltem Ton, nachdem ich die Panzerglasschleuse passiert
habe.«
»Soko-Leipzig-Kommissar« Steffen Schroeder hat ein Sachtagebuch
geschrieben. Ich besuchte damals die Buchvorstellung. Steffen
Schroeder erzählt eine wahre Geschichte, die, wie er zu seinem Job
als ehrenamtlicher Vollzugshelfer kam. Prominente werden gern
von Hilfsorganisationen angeschrieben, sich zu engagieren, man
suche Köpfe, als Werbeträger, Promis, die als Vorbild
vorweggehen. Weil er »Polizeioberkommissar Tom Kowalski« im ZDF
verkörpere, unterstütze er seit geraumer Zeit den »Weißen Ring«,
erzählte Schroeder bei der Lesung. Man sprach ihn an, ob er sich
vorstellen könne, als Vollzugshelfer zu arbeiten. Bisher hatte er
sich für Opfer von Straftaten engagiert, warum sollte er das für
einen Langzeitinhaftierten tun? Denn genau darum ging es, um
einen Lebenslänglichen. Lange überlegte er, ob er sich das antun
solle, denn dieser Job koste Zeit und Nerven warnte man ihn im
Vorfeld, aber darauf komme ich später: Man übernimmt viel
Verantwortung, soviel war klar. Der Familienrat Schroeder
entschied sich dafür.
»Angekündigt war mir dieser Mann als ›sehr einfach‹. Nun, wo er
vor mir sitzt und redet, stelle ich fest: Ich höre Micha gerne zu.«
Und so lernt Steffen Schroeder den Knast und Micha kennen, der
natürlich einen anderen Namen trägt. Und weil diese Geschichte
für ihn beeindruckend war, schrieb Schröder Tagebuch. Aus den
Aufzeichnungen ist dieses Buch entstanden. Micha sitzt seit fast
zwei Jahrzehnten in der JVA Tegel ein, ein Mörder und ehemaliger
Neonazi, der sich in einem Aussteigerprogramm befindet. Eine
lebenslange Strafe erhielt er, weil er einen Mann auf bestialische
Weise erstochen hat. Groß, kräftig, schwer tätowiert, ein Typ, um
den man wohl auf der Straße einen Haken schlagen würde, 42
Jahre alt, etwa im selben Alter wie Schröder, und er wohnte in
Potsdam in derselben Straße wie Schroeder, nur drei Häuser
entfernt (fast zur gleichen Zeit). Schroeders ältester Sohn ist so alt
wie der von Micha. Der Schauspieler sitzt vor Micha, es gibt
erschreckende Parallelen in ihrem Leben. Was wäre aus mir
geworden, fragt sich Schroeder, wenn ich in seiner Familie
aufgewachsen wäre?
»›Haben dir deine Opfer, wie dieser Mann, denn nie leidgetan?‹ –
›Damals nicht, ich stand so unter Drogen, Ecstasy, Koks, da hatte
ich keinen Sinn für den. War nur das Geld, das hat mich gelockt.
Jeden Tag 500 Mark für Nichtsmachen, super!« (Michi hatte einen
Mann eingesperrt, jeden Tag Geld mit seine Kreditkarte gezogen,
bis das Konto leer war.)
Sollte jemand denken, wir haben es bei Schroeder mit einem
»Täterversteher« zu tun, so muss ich enttäuschen. Schroeder wäre
ein guter Sozialarbeiter geworden. Er hört sich an, was Michi zu
seiner Tat zu sagen hat: Wenn der mich nicht provoziert hätte …
Dann liest er die Akten. Er konfrontiert Michi mit dem, was er
gelesen hat, das so anders aussieht: Michi wollte sich prügeln und
ist völlig brutal ausgerastet. Erst meint Michi, er könne sich nicht
erinnern. Aber ganz langsam beginnt auch Michi zuzugeben, dass
er damals, unter Dauerdrogen, wohl ein ziemliches Monster war.
Michi landete in seiner Kindheit in der DDR im berüchtigten
Kinderheim Torgau.
»Viele ehemalige Insassen berichten übereinstimmend, sie hätten
sich ein Konzentrationslager etwa so wie Torgau vorgestellt. Wenn
es zum ersten Mal in die Gemeinschaftsduschen ging und der
Erzieher den zentralen Hahn aufdrehte, glaubten einige sogar, sie
würden nun vergast.«
Der Leser erfährt viel über den Knast, insbesondere über den
Alltag eines Langzeitknackis. Michi bleibt dabei immer Mensch, mit
allen Kanten und Ecken. Und eben dieser Mensch hat ein Herz.
Komisch-traurig ist die Beerdigung von Michis einzigem Freund Rico.
Wer lange sitzt, hat keine Freunde mehr, oft wendet sich sogar die
Familie ab und im Gefängnis freundet man sich nicht gern an. Denn
irgendwann ist man wieder allein, wenn der Freund entlassen oder
verlegt wird, das schmerzt dann umso mehr. Rico war der einzige
Freund, und dem gebührt eine Beerdigung. Doch niemand kümmert
sich. Michi sammelt unter Mitgefangenen Geld und bittet Schröder,
das irgendwie zu organisieren. Eine schwierige Aktion, die viel
Vertrauen benötigt, wird das Geld auf Schroeders Konto
ankommen? Und die Leute draußen, Pfarrer, Behörden, machen sie
mit?
»Für die arbeitslosen Insassen, für die die Zellentür gleich nach der
Kontrolle zugeht, ist um 7:30 Uhr Aufschluss, dann frühstücken und
duschen, pünktlich um 8 Uhr werden sie wieder eingeschlossen. Um
11 Uhr werden die Zellen dann für eine Stunde geöffnet und die
Häftlinge können sich auf dem Flur frei bewegen.«
Wie geht es zu im Knast? Hackordnung, Besuche, Ausgang,
Freizeitgestaltung. Warum freuen sich die meisten Insassen auf
den abendlichen Einschluss? Ja, das Essen ist ekelhaft! Kann man
im Knast wirklich alles kaufen? Ja, man kann, von der Tomate über
Drogen, alles ist nur zehnmal so teuer. Und wie kommt das Zeug
hinein? Und woher haben die Knackies Geld? Kann man arbeiten
und wie viel Lohn erhält man? Was passiert, wenn man sich
»danebenbenimmt« oder versucht auszubrechen? Wie ist das mit
Besuchen und mit Ausgang? Steffen Schroeder fragt nach und er
erlebt einiges, bringt uns den Gefangenenalltag näher.
»Wir fahren quer durch Berlin, die Adresse von EXIT ist streng
geheim, da der Verein ständig Anschlagsdrohungen aus der
rechten Szene bekommt.«
Michi ist auf Methadon gesetzt, möchte reduzieren, aber er und
der Arzt haben verschiedene Vorstellungen. Auch möchte Michi
eine Ausbildung beginnen, als Maler oder Koch. Er befindet sich bei
EXIT im Aussteigerprogramm für ehemalige Neonazis. Er möchte
früher entlassen werden. 20 Jahre lebenslänglich. Nach 15 Jahren
kann man einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen. Gremien
tagen regelmäßig. Dort wird entschieden über Lockerungen,
Ausbildung, Ausgänge, Entlassungen usw. Die Vorstellung, dass
man automatisch nach 15 Jahren entlassen wird, wenn man sich gut
benimmt, ist falsch. Manch einer sitzt nach 20 Jahren sogar weiter
ein.
»Noch bis vor kurzem musste der Gefangene für sämtliche
Fahrscheine aufkommen, bei dem geringen Gehalt im Knast ein
kleines Vermögen. Nur wenn der Gefangene ins Kino oder in den
Zoo möchte, muss er die Eintrittskarten für die begleitenden
Beamten mitbezahlen.«
Michi bekommt Freigang mit Schroeder, natürlich unter Bewachung
zweier Justizbeamten in Zivil. Freiheit, der erste Euroschein, alles
sieht anders aus. Michi möchte auf den Weihnachtsmarkt, Glühwein
trinken, den alkoholfreien für Kinder, versteht sich. S-
Bahnfahrkarten kosten Geld, viel Geld für Michi, denn er muss auch
die für die Beamten mitbezahlen. Zwischen Schroeder und Michi
entwickelt sich eine Beziehung im Lauf der Zeit. Nein, keine
Freundschaft! Schroeder ist Betreuer und kann professionelle
Distanz bewahren. Er ist zuverlässig und kann zuhören, aber er
sagt Michi auch die Meinung. Zuverlässigkeit ist wichtig, enorm
wichtig, denn Schroeder ist Michis einziger Kontakt nach draußen.
Nach einem Jahr entscheidet sich der Schauspieler,
weiterzumachen, denn er weiß, wenn er Michi fallenließe, würde es
den Gefangenen herunterreißen in ein tiefes Loch. Ein
Engagement mit viel Verantwortung. Ein bewundernswertes
Engagement, das viel Nerven kostet. Drei Jahre begleiten wir
Steffen Schroeder und Michi durch dieses Buch, empathisch
geschrieben, Kritik am System, ein nachdenkliches Buch. Steffen
Schroeder ist für mich als Person mit diesem Buch um 300 % in
meiner Achtung gestiegen.
»… sieht es Michi als Betroffener ganz anders: Sollte ein Täter
wegen wiederholter Kapitalverbrechen zu lebenslänglicher Haft
mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt werden …
dann finde er es humaner, ihn hinzurichten. Auf die Idee, man
könne die Todesstrafe als human ansehen, war ich bis dahin noch
überhaupt nicht gekommen.«
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