Autorin
Sabine Ibing
Interview mit
Nina George
(von Sabine Ibing)
Nina George erblickte 1973 in Bielefeld das Licht der Welt. Sie absolvierte
von 1992-1995 eine journalistische Ausbildung beim Männermagazin
„Penthouse“ und arbeitete danach u.a. für das Hamburger Abendblatt,
die Welt, Allegra, Cosmopolitan, DIE ZEIT und Politik & Kultur.
Seit 1999 arbeitet George als freie Journalistin, Schriftstellerin, Rednerin
Dozentin, und engagiert sich seit 2011 als Urheberrechtsaktivistin und
politische Stimme für Autorenrechte. Sie ist Mitglied u.a. im PEN (Beirätin
des Präsidiums), Stellvertretende Präsidentin des „Three Seas Writers’
and Translators’ Council“, im „Syndikat“, den „BücherFrauen“, den
„Mörderischen Schwestern“. Nina ist Gründerin der Autoren-Initiativen
„Ja zum Urheberrecht“, „„Fairer Buchmarkt“ www.fairerbuchmarkt.de
sowie Impulsgeberin des „Netzwerk Autorenrechte“ (www-netzwerk-
autorenrechte.de). Nina George lebt in Berlin und der Bretagne.
26 verschiedene Buchveröffentlichungen, darunter Romane, Science-
Thriller, Provence-Krimis, dazu Kolumnen, Reportagen, Porträts und
Kritiken, Kolumnen (u.a. Hamburger Abendblatt), Blogs, Themen-
Schwerpunkte Politik und Buchbranche. Aber nicht nur das. Unter dem
Pseudonym Anne West galt Nina George bis 2009 als erfolgreichste
deutschsprachige Erotika-Autorin.
Die Schriftstellerin Nina George hat sich mit „Das Lavendelzimmer“ über
60 Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste eingenistet, in den USA
rangiert der Roman als „The Little Paris Bookshop“ seit mehreren
Monaten auf der New York Times Bestsellerliste und wird von 20th
Century FOX verfilmt. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt.
Unter ihrem zweiten Pen-Name, Nina Kramer, veröffentlichte sie 2008
den ersten deutschen Thriller, der sich mit den ethischen Verbrechen
der Reproduktionsmedizin auseinandersetzt: "Ein Leben ohne mich". In
Gemeinschaftsarbeit mit ihrem Ehemann Jo Kramer entstanden die
"Commissaire Mazan"-Thriller unter dem Pseudo-Andronym Jean
Bagnol.
Für »Die Mondspielerin« wurde George mit der DeLiA 2011, dem
Literaturpreis für den besten Liebesroman des Vorjahres,
ausgezeichnet. Mit „Das Licht von Dahme“ war George 2010 für den
renommierten Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte 'Kurzgeschichte'
nominiert. Sie gewann die Auszeichnung 2012 mit "Das Spiel ihres
Lebens". In 2015 erhielt Nina von den „Mörderischen Schwestern“ den
Preis „Die goldene Auguste“ verliehen, für ihren Einsatz für Autoren-
und Autorinnenrechte.
Nina Georges Neuerscheinung heißt: »Das Traumbuch«.
Wann immer man auf Nina George trifft, strahlt sie Lebensfreude und
Power aus. Der Typ Frau, mit der man abends einen draufmachen kann,
die Frau zum Pferdestehlen. Nina ist völlig unkompliziert, offen und hat
für jeden Menschen ein offenes Ohr.
http://www.ninageorge.de
S. I.: Nina, wo soll ich anfangen? Beginnen wir mit deinem größten
Erfolg, „Das Lavendelzimmer“. Viele Leser waren emotional von diesem
Buch berührt. Die Hauptperson ist Jean Perdu, ein Pariser Buchhändler,
der auf einem Lastkahn auf der Seine eine Bücherapotheke betreibt. Er
findet für jedes Leiden ein Buch um es zu heilen. Eine poetische
Sprache, nachdenklich, spannend, humorvoll, voll Leichtigkeit. Warum
haben die Leser so emotional auf die Geschichte reagiert? Und wie
kommt es bei einem Schriftsteller an, wenn man die Seele der Leser
trifft?
N.G.: Das ist das Grundhandwerk einer Schriftstellerin. Wenn sie nicht
ständig nur von sich selbst schreiben will, bleibt ihr nichts anderes
übrig, als sich in Empathie, Neugier, Toleranz und dem Mut zum
Anderssein, Andersfühlen, auszusetzen. Ich schrieb ja auch schon über
Frauen, die sich haben herum schubsen, drangsalieren, kleinmachen
lassen und empfand das als viel fremder und schwieriger, als über
einen Mann mit einem tiefen Liebes- und Lebenskummer zu schreiben.
Ich habe Jean aber auch von unterschiedlichen Männertypen gege-
lesen lassen. Bis auf ein, zwei Ausrutscher habe ich die männliche Seele
offenbar korrekt vermessen.
S. I.: Die Idee der literarischen Apotheke finde ich interessant. Ich
denke, es gibt viele Menschen, die sich durch Musik oder Bücher von
ihren seelischen Schmerzen befreien können. Andere wieder finden im
Musizieren oder Schreiben die Erlösung. Gibt es Stimmungen, in denen
du besonders gute Texte verfasst?
N.G.: Ich benötige eine ganz bestimmte innere Atmosphäre. Ein
Gemisch aus Distanz zur Welt, Kraft und Geduld, um auf das Thema des
Romans zu fokussieren, und Zugang zu meiner wahren Erzählstimme.
Das letztere ist mitunter schwer; es gibt ja mehrere Erzählstimmen –
die, die eitel der Schönschreiberei nachjapst und vom Feuilleton gelobt
werden will. Halt die Klappe. Die, die eitel von absurden Situationen
erzählen will, um die Leserinnen zu verblüffen – nix da, wer gefallen
will, der schreibt nur kriecherische Texte.
Aber dann, endlich: die wahre Stimme.
Sie reagiert empfindlich auf Störung. Auf Menschen, auf Facebook, auf
Briefe vom Steuerberater und auf Hunger. Sie will die Essenz der Welt
beschreiben und das in einem Kokon, in de nur das Schreiben, nicht das
Gefallen, nicht das Gelesen werden, nicht die Angst zählt.
Duschen und Alkohol helfen mir, diese Stimmung zu finden und mein
inneres Zimmer zu betreten, aus dem heraus ich die Welt in Einzelteile
zerlege und neu zusammen setze.
S. I.: Jean Perdu liebt das Tangotanzen. Du auch, soviel ich weiß.
Warum gerade Tango und was gibt dir das?
N.G.: Tango ist Nähe ohne Konsequenz. Ist ein Abend in einer
männlichen Umarmung. Und, da ich auch als Frau Frauen führe:
gestalten, halten, sich auf einer Ebene nah und vertraut werden, wo
keine Wörter je hinreichen werden.
S. I.: Das Lavendelzimmer soll verfilmt werden. Wirst du Einfluss auf
das Drehbuch haben? Wenn nicht, wirst du dir den Film wirklich
ansehen wollen? Selten gelingt es im Film, gleichermaßen ein Buch zu
transportieren, die Handlung und Emotion stimmig zu halten.
N.G.: Nein, ich werde keinen Einfluss haben – und auch nicht
verlangen. Filme sind eigene Kunstwerke, die eine eigene
Instrumentarik, ein eigenes Kunsthandwerk erfordern. Ich vertraue
jenen, die diese Kulturschaffende Technik beherrschen. Sie mischen
sich ja auch nicht in mein Buch ein, das „Ur-Werk“. Ich werde es
nehmen, wie es kommt.
S. I.: „Das Traumbuch“, dein neues Buch, handelt vom Wagnis im
Leben. Einmal etwas zu entscheiden, um auszubrechen, falsche
Entscheidungen im Leben zu revidieren, neu anzufangen. „Ein Unfall
verändert die Leben dreier Menschen. Habe ich das richtig
zusammengefasst? Erzähle uns etwas davon.
N.G.: Das ist das am schwierigsten zu fassendste Buch meiner
Laufbahn. Es geht schlicht um …
Um Alles.
Freundschaft, Liebe, Zurückgewiesen sein. Väter und Töchter, Väter
und Söhne. Hochbegabte Kinder, der Kampf zwischen Emotion und
Ratio. Es geht um die Frage, was zwischen den Welten ist, und ob wir
unsere Verstorbenen in Träumen treffen können. Es geht um Krieg und
um Frieden, um Hoffnung und die Frage, was wir in den Tod mitnehmen
können. Um einen Kriegsreporter im Koma, eine Verlegerin zwischen
zwei Männern, einen Teenager, der sich das erste Mal in ein Mädchen
verliebt, das ihn nicht und die ganze Welt nie mehr ansehen will.
Am besten ist: lesen und heraus finden, um was es geht. Für jeden
Leser, für jede Leserin, nämlich um etwas anderes.
S. I.: Du schreibst das Buch aus drei Ich-Perspektiven. Was ist das
Interessante für einen Schriftsteller an dieser Schreibweise. Was kann
schiefgehen?
N.G.: Aus dem Stand würde ich keinem Debütautoren diesen
dreifachen Doppelachsel mit Schnörkel zumuten. Für drei Ich-
Perspektiven – und auch noch in Präsenz erzählt -, ist eine sorgfältige
Figuren-Entwicklung nötig. Wo kommt derjenige her, was waren die
Erziehungsideale seiner Familie, welche Werte wurden hoch, welche
niedrig gehalten? Wie stellt sich derjenige der Welt entgegen, zahm,
widerstandsfähig, verloren? Alle benötigen ihre eigene Sprache, ihre
Wunden – und Ziele. Jeder muss eine Entwicklung machen, es ist nötig
zu wissen, wo die Figur am Ende stehen soll. Erst wenn ich das Ende
weiß, beginne ich festzulegen, wo bei einer Figur der Anfang der
Änderung einsetzen soll. Und kurz vorher lasse ich sie auf die
literarische Bühne komme. Kurz bevor sie beginnen zu werden, wer sie
wirklich sind.
Das dann noch mit dem Plot so zu verweben, dass wirklich etwas
geschieht, das erfordert viel Schreiben, Bauen, Überarbeiten,
Wegwerfen. Man sollte eh mehr Mut zum Wegwerfen haben.
S. I.: Unter dem Pseudonym Anne West zählt man dich zu den besten
Erotik-Autoren in Deutschland. Wie schafft man den Spagat zwischen
erotischer Literatur und Schmuddel. Wo hört das eine auf und wo fängt
das andere an?
N.G.: Keine Ahnung, das beurteilen am besten die, die beides gerne
lesen.
Ich persönlich langweile mich, wenn Geschlechtsverkehr filmisch
aberzählt wird. Anderen macht gerade das Freude; Anais Nin hat zum
Beispiel mal für ein Dollar pro Seite pornografische Literatur
geschrieben, wo der Auftraggeber explizit sagte, er wollte genitale
Action, kein Gefühlsgedöns.
Ich mag Gedöns. Ich mag es zu wissen, wie sich ein Mann fühlt, wenn er
eine Frau berührt, wenn er kurz davor ist, sich ihr zu nähern, was ihn
lockt, was ihn zurück schrecken lässt. Wie er sie riecht, wie er die
Pausen zwischen den Blicken auf sich wirken lässt.
Ich arbeite gerne mit sinnlichen, erotischen und eindeutig sexuellen
Szenen – wenn es die Figur vertieft oder den Plot weiter dreht. Nie ist
eine Figur so ehrlich wie beim Sex; er ist ein Katalysator, und bringt
Romanpersönlichkeiten ganz dicht an die Leser-Seele.
S. I.: Dein Mann, Jo Kramer, ist ebenfalls Schriftsteller. Unter dem
Namen „Jean Bagnol“ schreibt ihr Krimis um „Commissaire Mazan“. Wie
arbeitet man zu zweit an einem Buch? Ist es wichtig den Plot von
vornherein festzulegen? Und hat jeder seinen Teil, oder wie muss man
sich die Gemeinschaftsarbeit vorstellen?
N.G.: In dem Buch „Schreibende Paare“ von Tania Schlie habe ich das
Vorwort geschrieben und auf ungefähr zehn Seiten das Für und Wider
eines Lebens und Arbeitens mit einem Schriftsteller, dem Rundum-
Sorgen-Paket un Zutat für eine feine häusliche Apokalypse,
beschrieben.
Wir plotten sehr genau und strikt, verteilen Hoheiten über Figuren des
Ensembles und reden jeden Tag über die zu schreibenden und
geschriebenen Kapitel. Danach wird getauscht und redigiert, und dann
erneut gesprochen – man muss sich quasi aufs Klo flüchten, um mal
Ruhe zu haben. Aber das brauchen wir, um uns abzugleichen, um uns
zu fragen: Meinen wir dasselbe, wenn wir von Marseilles
knochenfarbener Härte sprechen? Sehen wir dieselbe Trüffelfarm vor
uns, ist der Hang unterm oder über dem Haus, und warum ist der
Tierarzt von Zadira fasziniert.
S. I.: Sicher gibt es bei Gemeinschaftsproduktionen
Meinungsverschiedenheiten. Was sind typische Streitthemen? Geht es
eher im Stilistik, Plot oder die verschiedene Wahrnehmung von Mann
und Frau? Wer setzt sich eher durch?
N.G.: Wir haben eine Regel: Nicht er, nicht ich – nur die Geschichte hat
Recht. Sie hat das letzte Wort. Wenn wir uns streiten, dann über die
psychologische Nachvollziehbarkeit von Handlungen. Oder über
Geheigänge (Das ist ein Insider, wir erklären das auf Wunsch mal unter
vier… sechs Augen).
S. I.: Und immer wieder Frankreich. Deine / eure Romane handeln zum
größten Teil, in den verschiedensten Regionen Frankreichs. Ich weiß, du
liebst dieses Land. Was ist die Faszination?
I
N.G.: ch fühle mich schriftstellerisch heraus geforderter, wenn ich
jenseits meiner eigenen täglichen Grenzen schreibe. Befreiter, und oft
auch fokussierter auf das Innenleben der Figuren. Außerdem mag ich
es, sie in Paris oder der bretonischen Küste herum laufen zu lassen
anstatt in der Fußgängerzone von Büsum oder Dortmund.
S. I.: Du bist nicht die einzige Schriftstellerin, die es auf dem Papier
unter anderem in die Provence zieht. Neben dieser Region sind
Schottland, Irland Cornwall und die Toskana sowie NY beliebt. Weshalb
lassen insbesondere deutsche Schriftstellerinnen gern in diesen
Regionen ihre Bücher handeln. Gibt Deutschland nicht genug Potential
für gute Romane?
N.G.: Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Potential gibt es
immer und überall, es kommt aber ach auf die Geschichte an, die man
erzählen will. Meine Deutschlandromane würden vermutlich kühler,
trübsinniger, mit einem Hauch Bitternis und sehr, sehr viel Sehnsucht,
mehr von der Welt zu schmecken.
Doch offenbar lesen Menschen gerne Bücher, die auch mal nicht im
Vorgarten ihres Nachbarn geschehen könnten. Und greifen zu Werken,
die sie heraus locken aus ihrem Alltag. Diese Lust haben nicht nur
Leserinnen, sondern offenbar auch Schriftstellerinnen.
S. I.: Das Entwickeln einer eigenen Stimme als Schriftsteller dauert
einige Jahre, hast du einmal gesagt. Man muss viele Bücher schreiben,
nicht alle werden veröffentlicht, einige landen in der Schublade.
Schreiben bedeutet, sich weiterzuentwickeln. „Spiegel-Bestseller-Liste“,
Bestsellerliste der "New York Times" für „Lavendelzimmer“, ein
absoluter Erfolg. Die Erwartungen an dich sind hoch, das kann man
kaum toppen, nur noch mit Preisen. Wie gehst du damit um? Stehst du
nun unter Erfolgsdruck?
N.G.: Yep. Aber da wir Schriftstellenden sowieso ständig unter Druck
stehen, ob selbstgemacht, fremdgeschenkt oder alle paar Tage aufs
Neue einfach so, wusste ich, dass ich durch die Phase der Angst
durchmuss. Angst zu haben ist kein Makel. Aber die Angst entscheiden
zu lassen ist es.
Also habe ich die Angst damit besiegt, in dem ich ein extra
kompliziertes, komplexes, völlig unerwartetes Nachfolgebuch schrieb:
Das Traumbuch.
Und, siehe da, es ist kein großer Erfolg.
Aber ich bin zufrieden, erlöst, das „Schlimme“ ist geschehen, ich lebe
noch, es geht mir gut, und ich habe ein besseres Buch als das
Lavendelzimmer geschrieben und mich unabhängig von Lob, aber auch
Tadel gehalten. Das ist es, was ich immer wollte: Ich wollte frei sein von
Gefallen und Nichtgefallen. Ich wollte nur der Geschichte alles
schulden, nur sie entscheidet.
S. I.: Ich weiß, du magst E-Books, ein tolles Medium für unterwegs,
etwas zum Platz sparen. Aber genau in diesem Gebiet ist nicht alles fair.
Elektronische Medien laden zum Kopieren ein, also zum geistigen
Diebstahl. Wer geht schon an den Kopierer, um sich das Taschenbuch
der Nachbarin zu kopieren? E-Books sind schnell kopiert, es gibt eine
große professionelle E-Book-Piraterie. Die Bibliotheken fordern, ihren
Nutzern aktuelle Bestseller über ihre E-Book-Onleihe zur Verfügung zu
stellen. Warum ist auch das alles nicht fair?
N.G.: Das Geschäftsmodell der Buchbranche funktioniert in dem
digitalen Markt nicht mehr. Unser Konzept beruht auf hohe persönliche,
zeitintensive wie wirtschaftliche Investition in das unberechenbare
Produkt „Inhalt“.
Niemand bezahlt die Leistung, Qualität oder Arbeitszeit einer Autorin –
sondern ausschließlich die Nutzung des in Selbstausbeutung, aber auch
mit Lust und Freiheit geschaffenen Werke. Die nachvollziehbare
Vergütung für jede Sorte Nutzung ist die Basis unseres Einkommens.
Einzelner Buchverkauf, das Verleihen in der Bibliothek oder die
Lizensierung als Hörbuch, Film und Übersetzung.
Dieses Prinzip hat im Web wenig Fans. Bei Flatrates verdienen wir kaum
ein Fünftel eines Buch-Verkaufs. Gratisaktionen verderben den
Marktwert. Piraterie ermöglicht Kriminellen ein Einkommen mit unserer
Arbeit.
Ob legale oder illegale Distribution: Die erfolgreichsten digitalen
Geschäftsmodelle sind jene, die mit Waren handeln, in die die Betreiber
keine müde Mark investieren. Das gilt 1) für die Schattenwirtschaft
Piraterie, in die Werbe-Milliarden für die Finanzierung illegaler Portale
fließen, 2) durch „paid Piracy“ erhobene „Abogebühren“ für illegalen
Zugriff auf bis zu 2 Millionen Werke – als aber auch 3) durch scheinbar
legale Intermediäre wie Google oder Facebook.
Deren Beliebtheit ziehen sie aus der kostenlosen Verfügbarmachung
von Kulturwerken, die sie weder vergüten, noch für die unregulierte
Verteilung Verantwortung übernehmen. Die Lizenzierungsfrage wird
nonchalant an die Nutzer outgesourct – sowie an die Rechteinhaber,
die jedem illegalen Link hinterherhecheln dürfen. In den 12
vergangenen Monaten wurden 840 Millionen Links bei Google zur
Löschung beantragt. Das Informationsmonopol betätigt sich gleichzeitig
als Werbe-Ad-Vermittler, dessen Bannerschaltungen eBook-
Piratenseiten grundfinanzieren.
Die politische Debatte sollte weniger den Otto-Normal-Sauger
skandalisieren und ihn vor den Abmahnanwalt zerren.
Sondern die Strukturen thematisieren, die den asymmetrischen Markt –
samt Steuer- und Investitionsausfällen – ermöglichen.
Meine Forderung an die Politik: wir Autoren und Autorinnen des
NETZWERK AUTORENRECHTE, das 7000 Buchautorinnen repräsentiert,
erwarten, dass die Lücken im altersschwachen Telemediengesetz
geschlossen werden, um den modernen Parasiten ihr allzu schamloses
Geschäftsmodell zu nehmen.
S. I.: Was leider noch nicht viele Leute kapiert haben: Amazon weiß,
wie du tickst. Amazon weiß, wie schnell du liest, welche Szenen du
überblätterst, mehrfach liest, welche Genres du magst. Entsprechend
werden dir die Bücher angeboten, die auf dein Profil passen. Klingt das
nicht kundenfreundlich?
N.G.: Bei jedem Onlinekontakt mit dem Distributor Amazon funkt das
Lesegerät Nutzerdaten zurück an den Server. Wie schnell umgeblättert
wurde, auf welchen Seiten mit welchem Inhalt langsamer gelesen, was
unterstrichen … solche Daten werden, formuliert man es positiv, zur
„Verbesserung des Produktes“ benutzt.
Konkret ist das Auslesen unserer Daten nur ein weiterer Punkt, wo die
Digitalisierung ihre ungesunden Nebenwirkungen offenbart – wir
selbst, die Benutzer des digitalen Schlaraffenlandes, werden zur Ware.
Ob GPS-Daten, WhatsApp-Mitteilungen, ob Fotos, unser
Einkaufsverhalten, alles summiert sich zu einem Daten-Kapital, das für
Werbung, für Versicherungen, für Geheimdienste bereit gestellt wird.
Und nun noch Einzelheiten über das Leseverhalten; der Flatrate-
Anbieter readfy weiß z.B. anhand der Nutzerdatenauswertung, dass die
Zielgruppe für ihre erotischen SM-Schmonzetten Männer über 59 und
Frauen zwischen 21 und 29 ist. Ob man sich das so intensiv vorstellen
will, ist eine andere Sache.
Der größte amerikanische Buchhändler Barnes & Noble weiß, dass Leser
von Sachbüchern dazu neigen, nur den Anfang und das Ende jedes
Kapitels zu lesen, und legte nur deswegen eine neue digitale
Sachbuchreihe auf: Es wird nicht mehr ausgiebig ein Thema pro Buch
behandelt, sondern mehrere unterschiedliche – Diät-Forschung,
Religion, die besten Sprüche von Michelle gegen Trump und am Ende
noch Jonglieren. Verlage bemühen sich verstärkt um die Rechte an
Mehrteilern, seit dank der elektronischen Nutzerauswertung klar ist,
das Fortsetzungsromane wie Harry Potter, die Twilight-Saga und eben
auch Die Tribute von Panem gelesen werden wie einzelnes Buch.
Anspruchsvolle Romane werden viel öfter nicht zu Ende gelesen, also
werden sie verkürzt oder gar nicht mehr aufgelegt.
Der US-Verlag Coliloquy gibt Erkenntnisse aus Leserdaten an
Autorinnen weiter. wen mögen die Leser, wessen Zitate markieren sie
besonders häufig, welche Eigenschaften schätzen sie an
Protagonisten? Die Autoren schreiben dann Geschichten im Sinne der
Leser. Heldinnen, die sowohl stark als auch sensibel sind, langhaarig
und langbeinig, und männliche Protagonisten, die groß sind, dunkel,
grünäugig und moderat behaart auf der Brust. Das ist ganz wichtig:
Haare auf dem Kopf ja, Haare auf der Brust: igitt.
Ich stelle mir Freiheit der Literatur anders vor.
S. I.: Amazon kann also Profile erstellen, wie ein Buch sozusagen
auszusehen hat, das beim Leser ankommt. Du sagst, das setzt
Schriftsteller unter Druck, nach Profilen zu schreiben, dichter, kürzer,
einfacher, schreiben nach Lesergusto. In den Verlagen läuft es doch
genauso. Ich kenne einige gute Schriftsteller, die nebenbei
Selfpublisher sind, weil einige ihrer Romane nicht dem Mainstream
entsprechen, so die Verlage. Gute Bücher, aber zu garstig, zu viel
Genremix, kein Happyend, zu politisch. Die Verlage drucken heute in der
Regel nur noch das, von dem sie meinen, es verkauft sich flott.
N.G.: Das ist ein Mythos. In vielen Verlagen sitzen Menschen, die in
Literatur verliebt sind und stets dafür sorgen werden, dass auch die
garstigen, die politischen, die unüblichen Geschichten gedruckt werden.
Bestseller finanzieren diese Mischkalkulation, mitunter kann es dann
beim Blick auf die top 20 der Spiegelliste so aussehen, als sei es stets
dasselbe – was aber nicht wahr ist. Wahr ist, dass es Themen gibt, die
weniger Lesende finden als andere. Gedruckt wird aber weit mehr.
S. I.: Die Selfpublisher unterbieten sich bei Amazon gern im Preis,
machen Gratisaktionen, bieten Bücher für 99 Cent an. Ein vernünftiges
Lektorat und Korrektorat kostet viel Geld, dazu kommt die Arbeitszeit,
Satz, Cover. Um die 99 Cent zu halten wird gern an diesen Dingen
gespart. Ein Buch, das mehr als 2,99 € bei Amazon kostet, hat es schwer,
außer Bestseller. Wäre es an der Zeit, einen Mindestlohn für Autoren
per Gesetz durchzusetzen? E-Books dürfen nicht unter drei Euro
verkauft werden, ein E-Book darf nicht unter 50% des Printbuchs liegen,
Gratisaktionen sind verboten?
N.G.: Zur Demokratie gehört das Recht auf das eigene Unglück und
auch eigene Entscheidung, ganz gleich, wie diese für Andere
befremdlich wirkt. Wer sich als Selfpublisher entscheidet, über
Preiskampf und Selbstmarketing ein Buch in den Markt zu drücken,
muss sich allerdings auch über die Konsequenzen im Klaren sein. Bei
einem Preis von 99 Cent muss ein Selfpublisher vier bis fünfmal soviel
verkaufen als wenn er den Preis von 2,99 anlegt, um auf die Marge zu
kommen. Lektorate kosten nicht wenig, wenn sie gut sind, zwischen 2000
und 4000 Euro, auch Cover sollten professionell gestaltet werden,
Bildrechte bezahlt.
In der Tat aber hat die Preispolitik, die Amazon konsequent seit Jahren
propagiert, zu einem fatalen Bild geführt: dass elektronische Literatur
billig sein muss – und das wiederum führt zu der gefolgerten Meinung,
dass es sich um wenig wertvolle Inhalte handelt. Wenn Amazon
weiterhin behauptet, mehr als zehn Euro sollte generell kein Buch, auch
kein gedrucktes kosten, wird deutlich, wie wenig das Unternehmen vom
Büchermachen verstehen. Die Leistungen, bis ein Buch lesefertig im
Buchhandel liegt, sind für Laien meist unbekannt, und dennoch würden
sie es deutlich merken, wenn diese fehlten. Lektorate verbessern den
Plot, den Stil, die Sprache. Korrektorate prüfen auf Logik, Sachfakten,
Grammatik. Das Cover ist das „Kleid“ für den ersten Eindruck. Verlage
schießen Gelder vor, damit Autorinnen es sich leisten können, zu
schreiben. Auch hier wäre ein Mindestgehalt wenig konstruktiv für die
Diversität der Literaturlandschaft – weil die ganzen kleinen und
Nischenverlage es sich nicht leisten könnten.
Betreffs Promotion: Natürlich ist es eine Kannibalisierung, wenn Shops
wie thalia.de und Aldi life insgesamt fast 10.000 E-Titel for free anbieten.
Immerhin: Schon heute sind Gratisaktionen durch das
Wettbewerbsrecht gedeckelt auf drei Wochen. Dennoch: Bücher zu
verschenken verleitet nicht zum Kauf – wozu auch? Man hat es ja schon
geschenkt bekommen! Die Branche ist sich hinter vorgehaltener Hand
längst einig, dass man „das macht, weil alle es machen“, aber die
meisten wissen ganz genau, dass der erhoffte Effekt ein Mythos bleibt.
Bücher zu verschenken kurbelt nicht den Verkauf an, es sorgt nur
dafür, dass ein Buch mal kurzfristig in den Gratis-Bestsellern auftaucht.
Das ist eine sehr verlogene Masche, da es den Inhalt völlig negiert.
Insgesamt wäre aber eine garantierte Mindestbeteiligung, z.B.
mindestens 6 bis 7 % beim Taschenbuch, 12 bis 13 beim Hardcover, und
eine elektronische Beteiligung, die sich nicht nach Nettoverlagserlös,
sondern nach dem Preis richtet. Das, was Verlage an Amazon an
Rabatten zahlen – Amazon nimmt 30 bis 40 %, der „Buchhändler an der
Ecke“ dagegen, wenn er auf seinem Webshop EBooks anbietet, nur 12 %
! – und was Pflege und Erstellung der elektronischen Dateien angeht,
wird vom Verkaufspreis abgezogen und davon der Autorenanteil
berechnet. Amazon erhält also dreimal soviel wie der Autor, obgleich er
deutlich weniger als z.B. der Buchhandelt leistet – weder Lesungen noch
Sozialpflege etwa.
Ich wünsche mir den konsequenten Erhalt der Buchpreisbindung. Sie
garantiert dauerhaft niedrige Preise; in Ländern ohne
Buchpreisbindung sind Bücher deutlich teurer, das Angebot zudem sehr
verengt auf marktgleitfähige Stoffe.
Ich plädiere auch für eine marktschonende elektronische Preispolitik.
Die meisten eBooks aus Verlagen sind bereits um 20 bis 25 % unter dem
Preis des gedruckten Werkes; man geht von 2 bis 3 Euro pro Buch aus,
die sonst für Druck und Lagerung angefallen wären. Diese Ersparnis
wird z.B. bei elektronischen Ausgaben bereits an die Käufer
weitergegeben, der Durchschnittspreis von Verlags-E-Books beträgt
6,89 Euro (Vor vier Jahren noch 10,11 €). Doch die Arbeit, die darin steckt,
ist genau dieselbe – und deswegen machen Zurufe wie: „Kein Ebook
mehr als fünf Euro“ mich wahnsinnig zornig. Das ist so, als ob man
sagen würde: Kaffee nur noch 4 Euro pro Kilo, ist mir egal, wie die
Leute überleben, die ihn herstellen. Das ist das Primark-Phänomen: Das
Billigste für mich, egal zu welchem Preis. Und sei es um die Ausbeutung
anderer Menschen weit weg.Ich kann Menschen, die sich aufführen, als
sei „billig“ ihr Grundrecht, nicht leiden. Sie offenbaren eine
Gleichgültigkeit gegenüber ihrer sozialen Umwelt und den Leistungen
ihrer Mitmenschen, die mir zutiefst fremd ist
Aber zum Glück gibt es – immer noch! – reichlich und viele Leserinnen
und Leser, denen ein Buch mehr wert ist als nur sein Preis. Ich glaube,
ohne sie hätte es wenig Sinn, überhaupt noch zu schreiben. Deswegen
einmal ein ehrliches, liebevolles: Dankeschön – Ohne Sie könnte ich
nicht tun, was ich tue. Danke.
S. I.: Liebe Nina, ich danke dir ganz herzlich für das Interview.
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