Autorin
Sabine Ibing
»Es ist nichts Reines in den menschlichen Beziehungen.«
Wenn die Sicherung durchbrennt … Ein Thema wohl aller Romane von
Yazmina Reza. Ich hatte bereits »Gott des Gemetzels« gelesen, eine
Geschichte, die sich an einer Balgelei zweier Jungen auf dem Schulhof
aufheizt, Eltern, die schlichten wollen, die sich am Ende bitterbös
bekämpfen. Ein wunderbares Buch.
»Stimme und Rhythmus sind wichtiger als Wörter und Sinn.« (Lydie)
Hier steht am Anfang das Biohuhn. Besser gesagt, das Huhn ist der
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, das sich mit den Emotionen
einer langjährigen Ehe gefüllt hat. Alle Protagonisten sind Anfang sechzig,
Gäste einer Party. Ein makabares Kammerspiel beginnt!
»Mitten am Nachmittag, ebenfalls todschick herausgeputzt und
kerzengerade, stolz auf sich selbst, auf das Leben, auf ihren kleinen
pockennarbigen Mann. Sie waren gerade eingezogen. Vielleicht ist sie nie
wieder so strahlend zufrieden über diese Schwelle getreten. Wir tun das
alle, ob Männer oder Frauen, wir stolzieren an jemandes Arm einher, als
hätten wir als einziger Mensch auf Erden das große Los gezogen. Man
muss sich mit diesen strahlenden Ausnahmemomenten zufriedengeben.
Man kann im Leben nicht darauf hoffen, dass etwas andauert.«
Ein bürgerlicher Stadtteil in Paris, intellektuelle Szene, Elisabeth,
zweiundsechzig, Patentingenieurin, plant mit ihrem Mann Pierre eine Party.
Viele Leute sind eingeladen, sie werden nicht alle kommen. Aber wenn
doch? Elisabeth überlässt nichts dem Zufall, alles muss stimmen, bis zur
Marke des Champagners. Hat sie genug Gläser und Stühle? Sie leiht sich zur
Sicherheit Nachschub von den Nachbarn Jean-Lino und Lydie, die sie kaum
kennt. Und natürlich muss man die beiden auch einladen, das gehört sich
so. Sie passen nicht ganz in den Freundeskreis. Lydie ist eine Esoterikerin,
eine New-Age-Therapeutin, alles im Gleichklang, im Ausgleich, sie hatte
bereits angeboten, Elisabeth die Wohnung auszupendeln. Jean-Lino, von
kurzer Statur, verkauft Elektrowaren.
Die Party läuft, es wird heiß diskutiert, viel getrunken. Lambert stellt fest,
»sämtliche linken Überzeugungen kommen mir nach und nach abhanden«.
Und Jeanne gibt eins obendrauf: »Mir kann das nicht passieren, ich habe
nie welche besessen!« Feine Dialoge, die eine gesellschaftliche Wandlung
andeuten, Alltagsphilosophie. Die Dialoge sind präzise, fein austariert.
Auf dem Höhepunkt der guten Stimmung erkundigt sich Lydie nach der
Herkunft des Hähnchens auf dem Büfett, weist darauf hin, dass ihr
Hühnchenkuchen, fast unangetastet auf dem Büfett, natürlich mit einem
Biohuhn gemacht wurde. Jean-Lino möchte witzig sein, lästert über seine
Frau, die nur noch Biolebensmittel einkauft, keine KZ-Hühner mag und
kürzlich im Restaurant den Kellner fragte, woher das angebotene
Hühnchen stamme, ob er wisse, ob es auf dem Ast eines Baumes gesessen
hätte und das getan hätte, was Hühner so tun. Im allgemeinen Gelächter
setzt er einen obendrauf, gackert und macht dazu mit den Ellenbogen
Flatterbewegungen. Lydies Gesichtszüge erstarren.
«Ich habe diese ständigen Einschränkungen so was von über, sagt Jean-
Lino, den ihr manisches Hantieren wahnsinnig macht, diesen Terror hab ich
so was von satt, wenn ich jeden Tag Huhn essen will, will ich jeden Tag Huhn
essen, ohne dass du und deinesgleichen mich anscheißen, wenn ihr nur
Körner und Salat fressen wollt, dann macht das meinetwegen, aber lasst
andere damit verdammt nochmal in Ruhe.»
Nachdem alle Gäste verschwunden sind, Elisabeth und Pierre stehen im
Schlafanzug, klingelt es. Jean-Lino erklärt, er habe Lydie umgebracht.
Grotesk geht es in der Geschichte weiter. Das Paar geht mit Jean-Lino
hinauf, überzeugt sich von der Tat. Lydie wurde erwürgt. Man richtet sie
schön zurecht, damit sie auch hübsch aussieht, wenn die Polizei erscheint,
danach muss man auf den Schreck einen trinken. Pierre und Elisabeth
verlassen das Appartement, denn der Rest ist Jean-Linos Sache. Pierre legt
sich ins Bett, schläft sofort ein. Elisabeth schleicht sich heraus, geht hoch zu
Jean-Lino, der ihr erklärt, wie es zu der Tat kam. Wer kümmert sich nun um
den Kater, wenn das Herrchen in den Knast muss? Jean-Lino will die Tat
vertuschen, die Leiche entsorgen und Elisabeth ist eine willige Helferin …
»Um unser irdisches Dasein zu ertragen, umgeben wir uns mit mythischen
Gegenständen. Genau die ziehen mich in ihren Bann, wenn ich die erstarrte
Welt der Fotografien betrachte, all diese elegischen Details. Klamotten,
Nippes, Talismane, all diese mal schicken, mal schäbigen
Ausstattungsstücke geben den Menschen stummen Halt.«
Ich habe mich nicht nur köstlich amüsiert über dieses slapstickartige,
bühnenreife Stück, sondern auch die wunderbaren Dialoge genossen,
böse, bizarr, treffsicher. Die Oberfläche ist glatt wie ein Kinderpopo und
darunter brodelt ein Vulkan, Szenen einer Ehe. Normale Menschen,
friedlich, gesittet und plötzlich knallt irgendein Korken im Kopf! Das
Biohuhn, ein fieser Tritt mit Stöckelschuhen gegen den geliebten
neurotischen Kater und schon bricht eine Welt zusammen. Wo wird die
bürgerliche Haut brüchig, wann bricht das Tier im zivilisierten Menschen
aus?
»Frauen müssen fröhlich sein. Anders als Männer, die ein Anrecht auf
Schwermut und Melancholie haben. Ab einem gewissen Alter sind Frauen zu
guter Laune verurteilt. Wenn du mit zwanzig eine Schnute ziehst, ist das
sexy, mit sechzig nervt es nur noch.«
Bürgerliche Fassaden, geschönte menschliche Beziehungen. Die
Hauptpersonen sind zwei Ehepaare, die in feinem Gleichklang leben,
oberflächlich. Je mehr die Fassade bröckelt, umso mehr wird klar, dass alle
aneinander vorbeireden. Keiner hört dem anderen zu, ist nur mit sich
selbst beschäftigt. Dramatik braucht nicht den Untergang der Titanic,
zumindest nicht bei Yazmina Reza. Die Geschichte geht langsam an und
hechtet ab der Mitte in einem Tempo, bei dem man beim Lesen die Luft
anhält. Feine Sprache, prägnante Dialoge, treffende Metaphern, eine
spannende Story gespickt mit feinem Blick auf die Gesellschaft, was will
man mehr? Meine volle Empfehlung!
»Er weiß nicht mehr, was er denken soll. Ihre Worte sind in seinen Körper
eingedrungen und lassen ihn unstillbar verbluten. Jean-Lino zerdrückt die
Kippe auf dem Betonboden und schiebt sie unter den Läufer. Er findet
seine Füße in diesen Mokassins lächerlich klein. Überhaupt fühlt er sich
klein, körperlich und auch sonst.«
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