Autorin
Sabine Ibing
Im Vorwort erfährt der Leser, dass dieser Roman auf Flucht des
jüdischen Autors Ulrich Alexander Boschwitz 1938, direkt nach den
Pogrom des Hitlerregimes irgendwo in Luxemburg oder Brüssel verfasst
wurde. Das Originaltyposkript wurde in den Sechzigern im Exilarchiv in
Frankfurt am Main verwahrt.
»Da sitze ich nun meiner Firma gegenüber, erzürnte sich Silbermann
immer mehr, und kann es nicht wagen hineinzugehen. Mir gehört sie! Mir
ganz allein! Ich habe sie mir in Jahren harter Arbeit aufgebaut, und jetzt
– jetzt ist jeder Lehrling mehr Herr in ihr, als ich es bin!«
Deutschland im November 1938, Otto Silbermann, Jude, bis dato
angesehener Geschäftsmann, erfährt per Telefon, Verwandte sind just
nverhaftet worden. Er verhandelt in diesem Moment über den Verkauf
seines Mietshauses, extrem unter Wert verlangt er neunzigtausend vom
Findler. Der meint, es seien schlechte Zeiten, bietet dreißigtausend,
fünfzehn auf den Tisch, sagt, wenn er nicht kauft, zieht der Staat das
Haus ein. Man verhandelt. Es klingelt und klopft an der Tür. Auch
Silbermann wollen sie holen, Findler bietet nun zehntausend, mehr sei
nun nicht mehr drin. Silbermann flieht durch die Hintertür, reist mit der
Bahn. Auch sein Geschäftspartner, Nationalsozialist Becker, zockt ihn
ab, nimmt ihm die Firma. Er ist Silbermanns Kriegskamerad aus dem
Ersten Weltkrieg, den der zum Kompagnon seiner Firma machte. Mit
einer Tasche voll Geld kehrt Silbermann am nächsten Tag nach Hause
zurück. Die Wohnung ist verwüstet. Seine Frau, Christin, reiste zu ihrem
Bruder, ist in Sicherheit. Der Schwager will Silbermann nicht haben, den
Juden. Hauptsache der Frau geht es gut. Telefonate mit dem Sohn in
Paris, der versucht seit Monaten Ausreisepapiere für die Eltern zu
erhalten, nichts zu machen. Sein Haus hat Silbermannr im letzten Jahr
neu anstreichen lassen, hätte er sich sparen können.
Silbermann reist mit der Reichsbahn durch das Land, er sieht nicht aus
wie ein Jude. Die Aktentasche voller Papiere, Besitzurkunden, den
Ausweis mit dem aufgestempelten J, achtzigtausend Mark, das Geld, das
er retten konnte, ein Koffer voller Kleidung. Doch wo soll er hin?
Zunächst in die Bahn, Richtung Belgien. Er hat gehört, dort wird man
über die Grenze geschmuggelt. Viel Geld bezahlt, von den belgischen
Grenzsoldaten erwischt, zurückgeschickt. Und wieder in die Bahn, dort
ist er sicher.
»›Warum lassen sich die Juden eigentlich alles gefallen?‹, fragte sie
ernst. ›Ich meine, warum wehren sie sich nicht? Warum fliehen sie nur?‹
›Wenn wir Romantiker wären‹, entgegnete er stolz auf seine Vernunft,
›dann hätten wir die letzten zweitausend Jahre schwerlich überlebt.‹«
Silbermann sitzt in der Bahn, steigt aus, isst im Restaurant, frühstückt
irgendwo, kauft ein neues Billett. So reist er durch kreuz und quer durch
das Land, telefoniert mit dem Sohn, nein, noch immer keine Dokumente.
Telefoniert, nein, seine Frau ist grade nicht im Haus, vermeldet der
Schwager, betont, ihr Obdach zu geben. Und die Frau? Warum ist sie nie
zu sprechen? Hat sie sich auch von Silbermann abgewandt? Reicht sie
vielleicht schon die Scheidung ein? Reisen macht müde, in der Bahn
schläft es sich schlecht. Hotels verlangen Anmeldungen, Ausweise, über
die Grenze kommt er auch nicht mehr. Reisen, umsteigen, reisen, in der
Bahn ist er sicher, Leute kennenlernen, zuhören, was sie sagen, über die
Juden. Demütigungen, Angst, bis in den Wahnsinn. Aber es kommt noch
schlimmer.
»Übrigens denke ich gar nicht mehr. Ich habe es mir abgewöhnt. So
erträgt man alles am besten.«
Ein Buch, das unter die Haut geht, insbesondere, da es von einem
jungen Juden 1938 geschrieben wurde, der es bis ins Exil geschafft hat,
es trotzdem nicht überlebte. Menschen wird alles genommen, im zweiten
Schritt werden sie deportiert, umgebracht, auf Grund der Zugehörigkeit
einer Religion. Gestern angesehener Bürger, heute Abschaum. Jeder um
Silbermann herum spricht es offen aus, zockt ab. Die Angst um das
eigene Leben. Silbermann sieht nicht aus wie ein Jude, aber der alte
Freund im Café und lauthals ist der obendrein, schnell weg, bevor man
sie zusammen verhaftet. Die Tötung wird nie erwähnt. Aber es ist
glasklar im Subtext zu lesen: Wer erst mal im Konzentrationslager sitzt,
kommt nie wieder heraus. Der Text entwickelt einen Sog ist spannend,
Worte treffen wie Hammerschläge. Ein Roman voll expressiver Dichte,
die wohl nur jemand auf der Flucht so treffend formulieren kann.
Schullektüre!
Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, sein Vater
stammte aus einer jüdischen Familie, konvertierte zum Christentum. Die
Mutter entstammte einer Lübecker Familie, die bedeutsame Theologen
hervorbrachte. Ulrich Boschwitz und seine Mutter Martha Wolgast
Boschwitz, eine Malerin, verließen 1935 Deutschland, wahrscheinlich auf
Grund der Nürnberger Rassengesetze. Mutter und Sohn emigrieren
zunächst nach Schweden, später nach Norwegen, wo Ulrich Boschwitz
seinen ersten Roman »Menschen neben dem Leben« verfasste. »Der
Reisende« entstand in kurzer Zeit in Luxemburg oder Belgien. Boschwitz
beobachtete aus dem Ausland die Pogrome, Plünderungen jüdischer
Geschäfte, Brandanschläge auf Synagogen, Verhaftungen und Morde
an Juden im November 1938, hatte sicher auch Kontakt mit jenen Leuten,
denen die Flucht gelang. 1939 folgte der 27-jährige Boschwitz seiner
Mutter ins britische Exil. Aber nach Kriegsbeginn hatte man jüdische
Männer in England zu feindlichen Ausländern (»enemy aliens«) erklärt So
wurde Boschwitz interniert und auf das von der britischen Regierung
gecharterte Passagierschiff M.V. Abosso verfrachtet, das jüdische
Exilflüchtlinge nach Australien bringen sollte. Das Schiff wurde 1942 von
einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Boschwitz Schwester
Clarissa verließ bereits 1933 Berlin, lebte in die Schweiz, schloss sich der
zionistischen Bewegung an und wanderte später nach Palästina aus. Der
Roman erschien bereits 1939 in England, 1940 in den USA und 1945 in
Frankreich. Dem Verleger Peter Graf ist es zu verdanken, dass dieses
wichtige Werk der deutschen Geschichte nun endlich auch auf Deutsch
erscheint.
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Rezension
Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz