Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit
zwei Gesichtern.«
Vietnamkrieg (1955-1975), ein Bild aus meiner Kindheit und Jugend,
Literatur und Filme in meiner Jugendzeit, immer aus der Sicht des weißen
Amerikas. Und hier haben wir das erste Buch aus der Sicht eines
Vietnamesen. Der Icherzähler bleibt namenlos. Seine Mutter ist
Vietnamesin, sein Vater war irgendein Franzose, eine Sache, die ihn hier
wie dort nie dazugehören lässt. Die letzten Tage vor dem Fall von Saigon
lassen den Roman beginnen. Der General und eine Auswahl von
Menschen dürfen fliehen, der CIA und die US-Soldaten machen sich vom
Acker, auf der Flucht vor dem Vietcong. Die NLF, die »Nationale Front für
die Befreiung Südvietnams«, schwenkt längst die blauroten Fahnen. Der
Icherzähler gehört zum engen Stab des Generals, aber er ist gleichzeitig
ein Spion des Vietcongs, erfährt der Leser. An jeder Ecke betteln
Menschen, mit auf die Flucht genommen zu werden, Straßen und
Flughafen sind überfüllt mit Flüchtlingen, ein Luftangriff auf die Air-Base
lässt viele Menschen sterben und in letzter Minute kann der General
starten, sich mit seiner kleinen Truppe retten. Der Krieg ist vorbei. Circa
fünf Millionen Vietnamesen sind tot.
»Viele von ihnen hatten einst Artillerieeinheiten und Infanteriebataillone
befehligt, doch heute war das Furchteinflößenste an ihnen ihr Stolz, ihr
Mundgeruch und ihre Wagenschlüssel, sofern sie im Besitz eines Autos
waren. … Am erfolgreichsten war ein General, der für den Einsatz
seiner Elitesoldaten bei der Ernte von Zimt berüchtigt gewesen war, auf
dessen Vertrieb er das Monopol besessen hatte. Dieser Gewürzhändler
führte nun das Kommando über eine Pizzeria.«
Angekommen in den USA, Los Angeles, sind diese ehemals Mächtigen
plötzlich ein Niemand, Flüchtlinge. Der Erzähler, ehemals ein Student in
den USA, stellt fest, damals war er Gast, ein Student unter Gleichen auf
Augenhöhe, heute ist er der Unerwünschte, der Flüchtling. Nicht weiß,
nicht gelb, ohne Kontur. Seine Aufgabe ist es, die Gruppe um den
General herum zu überwachen, die sich nun auf die Konterrevolution
vorbereitet, die Aktivitäten an die neue Führung von Vietnam zu melden.
Gefährlich sind sie in ihrer Starre nicht, müssen sich auf den
Lebensunterhalt konzentrieren. Der General selbst macht einen
Schnapsladen auf, in dem sich die alten Kameraden treffen, «in
quietschenden Pennyloafern aus der Schnäppchenabteilung und in
Billigkhakis mit Bügelfalte», nun ohne Uniform und Abzeichen, ohne
Zukunft, sie sich schön zu saufen.
»Dass ich Halbasiate war, spielte gar keine Rolle, denn wenn es um die
Herkunft ging, galt in Amerika nur ganz oder gar nicht. Du warst
entweder weiß oder nicht weiß.«
Der Sympathisant muss sogar töten, damit seine Tarnung nicht auffliegt.
Und dieser Mann hat tatsächlich ein historisches Vorbild, der reale Spion
Pham Xuan An, der heute unerkannt an einem versteckten Ort in den
USA lebt.
Der Icherzähler schlägt sich durch, resümiert über den Krieg, amüsiert
sich über die amerikanischen Sitten, weiße Überheblichkeit und
gleichzeitig über seine primitiven Mitflüchtlinge. Er liebt die Frauen, hat
aber Angst sich zu binden und er ist dem Alkohol gut zugetan. In
Hollywood sucht man einen vietnamesischen Berater, wegen der
Authentizität von Drehbüchern. Der Erzähler erhält den Job.
»Ich war so naiv zu glauben, den Organismus Hollywood von seinem Ziel
abbringen zu können, nämlich der Lobotomisierung und Ausbeutung des
Kinopublikums auf der ganzen Welt. Der zusätzliche Nutzen Hollywoods
war Geschichtsschreibung nach dem Prinzip des Tagebaus. Die Realität
blieb zusammen mit den Toten unter der Oberfläche, das staunende
Publikum bekam nur die winzigen, funkelnden Diamanten. Hollywood
erschuf nicht nur Monster, es war selbst ein Monster.«
»Apocalypse Now«, »Platoon«, »Full Metal Jacket« unser westliches Wissen
über den Vietnamkrieg, voller ideologischer Klischees. Damit räumt der
Autor Nguyen auf. Sein Erzähler fährt mit nach Indonesien, dem Drehort,
um am Set zu beraten, sei es im Script oder an der Kulisse.
Wer ist dieser Erzähler? Ein Niemand, ein Schatten, einer, der unsichtbar
sein muss, ein Doppelleben zu führen, nichts und niemand kann ihm
etwas anhaben, er steckt alles weg, jede Beleidigung, jeden Toten.
«Abgesehen von meinem Gewissen war meine Leber mein am übelsten
missbrauchtes Körperorgan.» Doch seine Haut wird brüchig, immer
wieder tritt seine Verletzlichkeit hervor, Kapitalismus contra
Kommunismus. Viet Thanh Nguyen ist zynisch, kritisch, historisch, er stellt
zwei Welten gegeneinander, rechnet mit beiden ab, zeigt beide Sichten,
betreibt Medienschelte, besonders am Beispiel Hollywood. Migration, die
Entwurzelung, weil man nie ankommt, nicht ankommen darf.
Das Buch überwältigt, es ist wichtig, historisch, sehr lesenswert, steckt
voller Information und ist gespickt mit ironischen Anspielungen. Immer
noch aktuell das Thema Flucht und Entwurzelung. Aber ganz ehrlich, ich
hatte nach dem Hype etwas anderes erwartet. Der Anfang war
spannend, doch die Mitte kroch zäh dahin, manchmal erschien es mir,
der Sachbuchcharakter hat Vorrang vor der Geschichte. Man muss beim
Lesen Geduld mitbringen. Ich habe das Buch oft beiseitegelegt:
nachdenken, resümieren, verarbeiten. Am Ende erfahren wir wo und
warum der Sympathisant seine Geschichte schreibt, wieder ein
hochspannender Teil. »Der Sympathisant« von Viet Thanh Nguyen wurde
2016 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Nguyen selbst, damals vier
Jahre alt, ist mit Vater, Mutter und seinem zehnjährigen Bruder durch
das chaotische Saigon geirrt, zuerst zum Flughafen, dann zur Botschaft,
zum Schluss zum Hafen, wo sie das Glück hatten, fliehen zu können. Er
sagt über sich selbst:
«I was born in Vietnam but made in America.»
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Rezension
Der Sympathisant
von Viet Thanh Nguyen