Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: «Manchmal nahm Weilemann den Hörer ab, obwohl
es gar nicht geklingelt hatte, nur um zu überprüfen, ob da
überhaupt noch ein Summton war.«
Schweizer Humor, Schweizer Charme und Schweizer Kultur, in
diesem Buch trifft alles zusammen. Kurt Weilemann, ein alter,
brummiger Journalist, der sich der modernen Technik verweigert,
noch ein Schnur-Telefon besitzt, hält sich mit kleinen Aufträgen
über Wasser, die Rente reicht nicht weit, »nächste-Station-
Friedhof-Bett«. Man gibt ihm Nachrufe zu schreiben, auf alte
Säcke, mit denen er einmal zusammengearbeitet hat. Da meldet
sich Felix Derendinger, und ein ehemaliger Kollege, Freund und
Konkurrent, trifft sich ihm, um ihm etwas mitzuteilen. Er ist
hektisch, nervös, dreht sich ständig um, redet Unverständliches,
steckt ihm eine Anstecknadel zu und ist schon in der Menge
verschwunden. Gleich darauf ist er tot, angeblicher Selbstmord,
von einer Mauer gesprungen. Weilemann glaubt nicht daran,
glaubt, der Kollege war etwas auf der Spur. Mit den ihm
mitgeteilten Fragmenten fängt er an zu ermitteln, denn ihm, dem
guten Rechercheur hatte der Kollege vertraut. War der Mord an
einem Politiker damals ein parteiinternes Komplott? Man hatte
einen Asylbewerber dafür verantwortlich gemacht. Bald bekommt
er es mit der Angst zu tun, ist man auch ihm auf der Spur?
»Dabei war es nicht so, dass ihn all die neuen Erfindungen
überfordert hätten, überhaupt nicht, er war ja nicht verkalkt, er
sah nur nicht ein, warum man sich ständig umstellen sollte, wenn
die Dinge doch gut funktionierten, so wie sie waren.«
In dieser Dystopie befinden wir uns in einer nahen Zukunft, in der
Autos selbstständig fahren, aber gleichzeitig fühlen wir uns ganz
zu Hause, sogar die vergangene Zeit ist völlig präsent in der
Hauptfigur. Alles ist überwacht. Weilemann trickst, fährt im Bus mit
einem Seniorenausflug, anstatt ein Ticket zu kaufen, agiert mit
fremden Visitenkarten, um seine Identität zu vertuschen, lässt das
Handy im Zug liegen, wohin es auch immer reist. Wird ihm das
etwas nützen?
»›Seit 1941 ist in der Schweiz die Todesstrafe abgeschafft‹, stand
da. ›Sind Sie der Ansicht, dass man angesichts der virulenten
Ausländerkriminalität diese Form der Vollsühne wieder einführen
sollte?‹ – ›Vollsühne‹ ist eine Scheißformulierung, dachte
Weilemanns Journalistenhirn automatisch, dafür ist ›virulent‹ ein
gut ausgesuchtes Adjektiv: Die Leute wissen nicht genau, was es
bedeutet, werden aber an einen Krankheitserreger erinnert, und
für Krankheitsbekämpfung ist jeder.«
Die Schweiz wird allein von den »Eidgenössischen Demokraten«
regiert, einer rechten, populistischen Partei, die einen digital
überwachten Staat installiert hat, nun die Todesstrafe wieder
einführen möchte, was den meisten Menschen recht logisch
erscheint. Allein, was so ein Verbrecher im Knast jeden Tag kostet!
Natürlich darf das Volk noch wählen! Es herrscht ja Demokratie!
Die »Eidgenössischen« sind die Einzigen, die viel Geld aufbringen
können und stecken dies in jede Menge Werbekampagnen zum
Volksentscheid, man kommt an ihren Aufrufen, Artikeln, Plakaten
und Unterschriften nicht vorbei, wird täglich berieselt.
«‹Das Gedicht, das Sie vorgelesen haben, von wem war das?‹ - Der
Mann errötete. ›Von mir‹, sagte er und blickte verlegen zur Seite.
›Verse sind mein Hobby.‹ – ›Schön. Sehr schön. Übrigens:
‹Rhythmus› schreibt man mit zweimal ‹h›.‹ – ›Natürlich. Wieso …?‹ –
›Ich hatte den Eindruck, dass Sie das Wort noch nie gehört haben.‹
Es war ein billiger Sieg gegen einen wehrlosen Gegner, weit unter
Weilemanns Würde, aber ab und zu tat es einfach gut, so einen
verbalen Treffer zu landen und sich damit selber zu beweisen,
dass man das Spiel mit der Sprache noch nicht ganz verlernt
hatte.«
Mit Sprachwitz und gesellschaftskritischem Humor begibt sich
Weilemann auf die Suche. Eine Suche in das Alter, in die moderne
Zeit, in der viel zu kritisieren ist, »ein alter Sack war er geworden,
ein altmodischer alter Sack«, »retro«, wie er sich selbst bezeichnet,
Altersheim, Seniorenfahren, alles ist dabei. Dieser Krimi ist nichts
für Schnellleser, die Handlung wird nicht herangetrieben, tritt oft
auf der Stelle in den gedanklichen Exkursen des Protagonisten für
alle möglichen Themen.
»Er hätte auch einen Wilhelm Tell genommen, es musste ja nicht
gerade der sein, der da drüben an der Wand hing: das legendäre
ED-Plakat für die Abstimmung damals, in der die Kündigung aller
Verträge mit der EU beschlossen worden war, Wille im
Sennenchutteli und mit Armbrust, und darunter das Schiller-Zitat
›Der Starke ist am mächtigsten allein.‹ Nur dass sich dann sehr
bald herausgestellt hatte, dass die Schweiz eben doch nicht stark
genug war, um allein mächtig zu sein, eine Tatsache, an der die
einfachen Büezer immer noch zu knabbern hatten; selber schuld,
warum machten sie aus ihren Kindern nicht Tochtergesellschaften
und lagerten sie ins Ausland aus, so wie es die großen Konzerne
mit ihren Fabriken taten? Wenn man so wollte, hatte ihnen der
Friedrich Schiller mit seinem fetzigen Spruch die Misere
eingebrockt, aber der war eben Ausländer, und von denen war
noch nie etwas Gutes gekommen.«
Der Mord ist eigentlich Nebensache. Die Inneneinsichten des
alternden Mannes über die Neue Welt treffen ins Schwarze. Was
wäre, wenn einer allein die Macht hätte, die Presse und die Polizei
im Griff und keiner merkt es? Der Roman ist politisch. Charles
Lewinsky mahnt vor einer Zukunft, regiert durch die Rechten, ein
Blick auf die SVP ist sicher nicht von ungefähr. Er haut auf alle
drauf, in herrlichen Vergleichen. Was braucht Zürich die Mafia, es
hat ja schon die Banken, erklärt er. Die gelangweilten Rentner
reisen zur Burg nicht aus kulturellen Dingen, wegen der guten
Mistkratzerli (Schweizer Name für Hühnchen) und dem guten
Kaffee Doppelcreme im Burgkeller, um abends dann wieder die
Abführmittel zu nehmen. Hier bekommt jeder sein Fett ab. Ein
Krimi, der eher für Nichtkrimileser geeignet ist, voll Satire und
bösem Blick auf die Politik, der Frau Schweizer und dem Herrn
Schweizer auf’s Mul geschaut.
Der Krimi ist derzeit auf Platz eins der Bestellerliste der Schweiz.
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