Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Die Geschichte der Baltimores
von Joël Dicker
»Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das
Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben
im Grunde keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden.«
(Onkel Saul)
Nachdem mich der Roman »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«, des
Westschweizers Joël Dicker, nachdrücklich beeindruckt hat, war ich
gespannt auf den Nachfolger. Laut der Vorankündigung spielt die
Handlung wieder in den USA und man trifft erneut auf den Icherzäler
Marcus Goldman, auf seine Familiengeschichte. Es wird ein Krimi
angekündigt. Krimi? Dazu benötigt man ein Verbrechen und einen
Ermittler. Wie es zu dieser Kundgabe kam, ist mir ein Rätsel. Ein Thriller?
Schon gar nicht. Die Erzählung ist eindeutig dem Genre Drama zuzuordnen,
Untergenre: Familiengeschichte. Und ich muss gleich zu Anfang betonen,
auch wenn ich dieses Buch mag, ich war enttäuscht, es bleibt um Längen
hinter dem Vorgänger zurück, insbesondere was die Raffinesse angeht.
Erzählt wird die Geschichte der Familie Goldman. Gleich auf den ersten
Seiten wird der Leser auf eine schreckliche Katastrophe vorbereitet. Das
nahm mir ein wenig die Spannung, nervte sogar, da es gebetsmühlenartig
alle paar Seiten erwähnt wird. Die Großeltern Goldman haben zwei Söhne.
Der eine, Marcus‘ Vater, mäßig erfolgreich als Ingenieur, der später das
Familienunternehmen, Medizintechnik, übernimmt und die Firma nicht vor
dem Untergang bewahren kann. Die Looserfamilie aus Montclair, die
Montclairs aus dem Mittelstand. Der andere Goldmansohn ist ein
erfolggekrönter Anwalt, verheiratet mit einer Ärztin. Sie wohnen in
Baltimore. Die Baltimores stehen für Erfolg und Reichtum.
Die Montclairs haben einen Sohn, den Erzähler Marcus. Die Baltimores
wurden zur gleichen Zeit Eltern, der Cousin heißt Hillel. Aber auch hier hat
Onkel Saul wieder die Nase vorn, denn die Baltimores nehmen ein
Pflegekind auf, Woody. Diese drei Cousins sind beste Freunde, bezeichnen
sich als Goldman-Gang. Zwischendurch wird die Gruppe erweitert, mit
Alexandra und ihrem Bruder. Marcus liebt es bei Onkel und Tante zu
verweilen. Hier fühlt er sich als einer der Baltimores.
Marcus Goldman befindet sich am Anfang des Romans 2012 in Florida, im
Haus des verstorbenen Onkel Saul, um dort den Nachlass zu sortieren. Der
Leser erfährt recht schnell von der Katastrophe, niemand der Baltimores
ist mehr am Leben. Der Schriftsteller trifft in Florida auch auf seine
verflossene Liebe, Alexandra, die eine steile Karriere als Pop-Sängerin
absolvierte, die neu leiert ist. In Rückblenden berichtet Marcus über die
Freundschaft der unzertrennlichen Cousins, wobei Marcus aufgrund
seines Wohnorts stets ein wenig abseits stand. Er sehnte sich seine ganze
Jugend, zu den Baltimores zu fahren, zu den Cousins, zu der schicken Villa
mit Pool und Security, schämte sich für seine eigene Familie, neidete dem
Cousin seinen Bruder. Hillel Goldman, ein hochintelligenter Junge, daher
schwierig, besserwisserisch, mit zartem Körperbau, ein Opfer für andere
Kinder, dagegen Woody, groß, kräftig, charmant, ein Footballtalent, der
Bodyguard von Hillel. Marcus ist Durchschnitt, eben ein Montclair. Diese
drei Jungen halten zusammen wie Pech und Schwefel, aus ihnen werden
Jugendliche, junge Erwachsene, sie beginnen ihr Studium. Nichts kann die
Goldman-Gang trennen, so meint man. Die Erzählung ist mit Cliffhängern
besetzt, Marcus unterbricht häufig und die Geschichte läuft im Jetzt
weiter. Die Rückblende ist nicht ganz chronologisch. Der Leser muss bis zu
den letzten Seiten durchhalten, um zu erfahren, was letztendlich zur
Tragödie führte. Aber auch für Marcus war dieses Ende unfassbar, nicht
alle Details sind ihm bekannt. Während er uns von der Vergangenheit
berichtet, ist er gleichzeitig selbst auf der Suche nach Puzzlestücken, um
zu verstehen, wie die Dinge zusammenhängen.
Menschliche Abgründe, verdeckte Eifersucht, Missgunst,
Missverständnisse, ein Thema, das in vielen Familien herrscht. Joël Dicker
hat sich die Menschlichkeit zum Thema genommen, etwas das uns antreibt,
Erfolg zu haben, besser zu sein, als andere. Das wiederum ist
gesellschaftlich nicht legitim, diese Gefühle werden kaschiert. Eine
Familiengeschichte, die sich seit Adam und Eva wiederholt, sich immer
wiederholen wird, weil der Mensch ein Mensch ist. Man ahnt als Leser,
wohin die Story der Goldman-Gang führt, voyeuristisch kann man nicht
wegsehen, möchte wissen, wer die Schuld trägt. Gibt es bei diesen
Geschichten einen einzigen Schuldigen oder verzahnt sich hier ein Rad, das
unaufhörlich weiterrollt? Besonders gut hat mir die Beschreibung von Hillel
gefallen. Der zarte Junge wird in der Schule unfassbar bösartig von einem
Klassenkameraden misshandelt. Hillel steckt im Dilemma. Er möchte nicht
als Petze dastehen, weil das heftigeres Mobbing auslösen würde.
Gleichzeitig hält er die Quälerei kaum aus. Realistisch beschrieben:
Mitschüler, die froh sind, nicht selbst das Opfer zu sein, Lehrer die
wegschauen, weil sie den Jungen nicht mögen, ein Direktor, der nichts
sehen will, da an seiner Schule so etwas nicht vorkommt. Dicker beschäftigt
sich mit Geschwisterliebe, Freundschaft, Familie, die begleitend
Konkurrenzverhalten mit sich bringt, die Sehnsucht nach Anerkennung bei
Eltern und Großeltern. Verzicht für einen anderen ist ein weiteres Thema.
Das alles beschreibt Dicker komplex und an vielen Stellen berührend.
Einerseits kann Dicker mit seiner Sprache verzaubern, in manchen
Passagen ist sie jedoch platt. Dicker spielt mit Sensationslust und
Charakteren von megaerfolgreichen Menschen, für mich ein bisschen fett
aufgetragen. Hoher Flug und tiefer Fall, die Guten sind am Ende die
Aufrichtigen, die weniger Erfolgreichen. Der Leser liest befriedigend, was
passiert, wenn einer zu hoch hinaus will. Decker spielt mit Klischees. Vielen
Lesern wird das gefallen, mir war genau das zu einfach und zu
konstruiert. Insbesondere Onkel Saul ist mir auf die Nerven gegangen. Ein
aufrechter Jurist in den USA, Verteidiger für die Gerechtigkeit, der
absolute Gutmensch und dann ein heimliches .. Nachdem er pleite ist, geht
der alte Mann selbstverständich im Supermarkt arbeiten, räumt Regale
ein, ein schönes amerikanische Klischee. Never give up. Wie gesagt, Dicker
spielt gewaltig mit Plattitüde.
Der Roman ist einerseits spannend, andererseits beherbergt er einige
Längen und Nebenstränge, die zu nichts führen. Gefällig geschrieben, gut
zu lesende Unterhaltungsliteratur nach Schema. Dickers gefeierter Roman
»Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« lebte von einer ausgefeilten
Dramaturgie, Wendungen, mit denen der Leser nicht rechnete. Das
machte die Einzigartigkeit der Geschichte aus. In diesem Nachfolger fehlt
mir genau das: die Raffinesse. Man weiss von Anfang an, wie die
Geschichte enden wird, nur der Weg ist nicht bekannt, doch zu
transluzent. Durch die Cliffhanger sind sogleich die Schnittpunkte für eine
Verfilmung gesetzt, so könnte man meinen, ein wenig zuviel auf Hollywood
gezeichnet. Kurzweilig, empfehlenswert als Urlaubslektüre, keine Frage,
aber keinesfalls spektakulär.
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