Autorin
Sabine Ibing
»Ich wollte immer raus aus dem DDR-Käfig. Jetzt ist der Käfig offen, und
ich bin zu erwachsen, um rauszuwollen in die Welt. Stattdessen
klammere ich mich an meine Aufgaben.«
Gleich vorweg, ich bin völlig begeistert von diesem Roman! Eine wahre
Familiengeschichte, die der Familie Hauser, Feinheiten kann man
googeln. Franziska Hauser nennt sie in diesem Roman Familie Hirsch:
Beginnend im späten 19. Jahrhundert bis ins Jahr 2012 lernen wir die
Generationen kennen. Opa Friedrich Hirsch, Jude, Hochschulprofessor
für Mathematik, Soldat im Ersten Weltkrieg, Sozialist, landet nach Hitlers
Machtübernahme kurz im KZ, kann zunächst nach Frankreich fliehen,
von dort weiter nach England, baut nach dem Krieg in der DDR das
Schulwesen auf. Die christliche Ehefrau Ilse flieht mit dem jüngeren
Sohn Erwin nach Frankreich, sie überleben dort. Sohn Alfred kämpft in
der Résistance gegen die Deutschen. Der Familie wird nach Kriegsende
die Rückkehr ins französisch besetzte Deutschland verwehrt! Der
Professor darf nicht zurückkehren an seine Freiburger Universität:
Kommunisten sind Feinde. Sie ziehen in die russische Zone. Alfred,
Frauenheld, linientreu, wird ein berühmter Schriftsteller und Journalist,
Erwin wird Physiker. Alfreds Tochter Tamara, schon als Kind rebellisch,
eine Puppenspielerin, hasst die DDR, fühlt sich im Denken gemaßregelt
und gefangen im Land, bekommt ständig Ärger mit der Obrigkeit. Aber
Opa und Papa sind berühmt, ein gute Portion Narrenfreiheit steht ihr
zu. Die Schwester, Dascha, angepasst, schwer depressiv, begeht Suizid.
Das hat seine Gründe.
»Wenn Friedrich an den Wochenenden nach Penrith fuhr, um Irene zu
sehen, redete er von dem neuen Schulsystem, das er entwickeln wolle.
Er sagte, man müsse sich für fortschrittliche Schulen ein Beispiel
nehmen am Bauhausgedanken. Die strengen Grenzen zwischen
Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Technik, Handwerk und Kunst
müssten dringend abgeschafft werden.«
Vier Generationen im Zeitwechsel. Die Hauptfigur ist die
Gewitterschwimmerin, eine Frau ohne Angst, die sich wehrt, wenn ihr
etwas nicht passt: Tamara. Zeitsprünge von 1932 und weiter
zurückblickend in die Jugend vom Großvater bis hin zu 2012,
erzählerischer Perspektivwechsel vom personalen Erzählen zur
Icherzählerin. Die Großeltern und Urgroßeltern (die im KZ starben)
waren Opfer des Naziregimes, deren Kinder, Tamaras Eltern, wurden
selbst zu Tätern, Täter in einem anderen Regime, Täter an den eigenen
Kindern, die von ihnen selbst und von Verwandtschaft und
Bekanntschaft missbraucht wurden. Die Autorin bricht das Schweigen
über Familiengeheimnisse, indem sie sich ins Innerste der eigenen
Mutter hineindenkt. »Ich hätte gerne stinknormale Eltern gehabt«, sagt
Tamara. Die Schwestern haben es nicht leicht mit diesen Eltern,
insbesondere die narzisstische Mutter schockiert. »Ich wünschte, ich
hätte eine Mutter, die...«, man kann es verstehen.
»Die Eltern ließen sich von der Partei durch die Welt schicken, waren
zwischendurch ein paar Wochen zu Hause und bald wieder viele
Wochen weg. Für Irmgard war es jedes Mal wie Urlaub. Sie musste keine
Partys vorbereiten, weniger einkaufen, Wäsche waschen, Essen kochen
und sauber machen.«
Die herzliche Haushälterin Irmgard ist die einzige Konstante im Leben
der Kinder, die Eltern sind viel auf Reisen durch die gesamte Welt, alles
im Namen der DDR, Frankreich, USA, bis hin nach Tibet. Auf der einen
Seite sind alle froh, wenn die Eltern fort sind, auf der anderen fehlt den
Kindern die Elternliebe.
»Mit Henriette an der Hand gehe ich in die Werkshalle. ›Hans? Arbeitet
hier keenr!‹ Niemand kennt seinen Namen. Man sieht uns mitleidig an.
Ich komme mir bescheuert vor mit dem fassungslosen Gesicht und dem
Bauch und dem Kind.«
Mit Männern hat Tamara nicht viel Glück. Roland ist tot. Er ist
wahrscheinlich der Vater von Henriette. Mit Hans kann sie sich ein
Leben vorstellen, der Mann, der illegale Papiere druckt und Schnaps
klaut. Hans freut sich auf das gemeinsame Kind, gibt vor, in einer
Druckerei zu arbeiten, die Familie muss versorgt werden. Plötzlich ist
Hans spurlos verschwunden. Tamara ist schockiert, bekommt später
heraus, Hans ist abgehauen in den Westen, hat sie hochschwanger
sitzengelassen.
Die Autorin berichtet zu ihrem Buch: »Die Gewitterschwimmerin
brauchte sieben Jahre. Entstanden ist die Idee aus der Frage, warum
meine Mutter so ein Biest geworden war. Ich fing an, in der
Vergangenheit zu wühlen und plötzlich fielen mir so viele
ungeheuerliche Zusammenhänge auf, die weit auseinanderliegende
Ereignisse miteinander vernetzten, dass ich anfangen musste, diese
Verknüpfungen aufzuschreiben und aufzuzeichnen.«
Ich habe Tamara beim Lesen nicht als Biest empfunden, eher ihre
eiskalte Mutter, Adele. Die Autorin geht sehr respektvoll mit ihrer
Mutter um, Tamara, 1951 geboren, die Gewitterschwimmerin, dem
Thanatos folgend. Sicher, sie ist keine einfache Person, sie ist ein
Rebell. Aber der Rebell hat ihr die Seele gerettet, während ihre
Schwester Dascha, die Wehrlose, zerbrochen ist.
Großmutter Ilse, eine konservative Pfarrerstochter heiratet einen
Juden, muss vor den Nazis fliehen, sich später anpassen im
kommunistischen Regime, die freie Liebe ertragen. Ihr Mann Friedrich,
Prof. Dr., Dr. h.c. erhält von Honecker den vaterländischen
Verdienstorden in Gold, wird 100 Jahre alt, hat nie etwas mit Religion am
Hut, war es irgendwann Leid ein Jude zu sein, seine Familie wurde im KZ
umgebracht. Der Vater, Alfred, kämpft in der Résistance zusammen mit
seiner Lebenspartnerin Esther, die er nach dem Krieg sitzen lässt, für
die exzentrische Krankenschwester Adele. Kommunismus ist für ihn
Religion. Onkel Erwin und Frau arbeiten am Institut für Kernforschung
in Rossendorf. Zeitweise wohnt Familie Alfred Hauser samt Eltern in
einem Schlösschen an der Elbe, im Souterrain wohnt die enteignete
Eigentümerin, ehemalige Millionärin und Besitzerin einer
Zigarettenfabrik.
»Esther war eine intelligente Jüdin und eine mutige Kämpferin. Meine
Mutter ist beides nicht. ... Warum Papa lieber Kommunist sein will und
kein Jude, weiß ich jetzt. Kommunisten kämpfen, Juden werden
ermordet.«
Für die Eltern, die sich Ruhm und Ansehen in der DDR erarbeiteten, ein
sehr privilegiertes Leben führten, ist der Mauerfall der Niedergang, für
die Tochter Tamara, die Erlösung, die letztendlich die ersehnte Freiheit
nicht nutzt. Tamaras Töchter Henriette und Maja sind zu diesem
Zeitpunkt 10 und 14 Jahre alt.
»In der Nacht kommt Alfred in mein Zimmer. Er schiebt mir vorsichtig
die Decke weg, streichelt mich, schiebt meine Beine auseinander und
steckt seine Zunge dazwischen.«
Satirisch, sarkastisch, humorvoll auf der einen Seite, traurig, qualvoll
auf der anderen, Charaktere die tief gehen, die Autorin geht mit der
Familie ins Gericht. Familiengeschichte, deutsche Geschichte,
schillernde Persönlichkeiten. Die Icherzählerin geht dem Leser nahe,
insbesondere, wenn sie von Dascha, der Schwester berichtet. Was
Dascha erleben muss, lässt einem den Atem stocken. Tamara ist als
Icherzählerin trotzig, rotzig, authentisch, mitfühlend, immer
altersgerecht in ihrer Sprache angepasst. Die kindliche Sicht Tamaras in
jungen Jahren birgt eine Menge Komik und Dynamik. Die personale
Erzählerin geht auf Distanz, ist analytisch, sie will verstehen. Die
Handlung ist nicht chronologisch, springt in den Jahren hin und her,
was einen Reiz ausmacht, es geht um die Charaktere, um
Zusammenhänge. Perspektivwechsel und Tempuswechsel sind perfekt
gesetzt.
»Als Friedensaktivist war er immer bemüht gewesen, die großen
Zusammenhänge zu begreifen, und jetzt hatte er nicht einmal
begriffen, dass der Krieg vorbei war. Die Nazis waren keine Feinde der
westlichen Besatzungsmacht mehr. Die Feinde waren jetzt wieder die
Kommunisten. Er sei kein Kommunist, beteuerte Friedrich
geistesgegenwärtig, aber es hatte keinen Sinn, das zu beteuern. Man
glaubte ihm kein Wort.«
Bis auf ihren leiblichen Vater sind alle Personen stimmig, sagt die
Autorin, selbst jede Nebenfigur. Sie konnte in den Archiven der DDR
genügend Recherchematerial finden, um historisch richtig zu berichten.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Jahreszahl, der Leser kann somit nicht
durcheinanderkommen. Sprachlich ist dieses Buch für mich ein Kleinod.
Werde es bestimmt noch ein paarmal lesen. Fasziniert hat mich auch
der Wahrheitsgehalt. Deutsche Geschichte von der Kaiserzeit bis heute,
mit allen Facetten, Leid durch vier Generationen getragen,
Wiederholung in veränderter Form.
»›Warum kommt Karl Marx nicht in den Kommunistenhimmel?‹ Alfred
hält drei Finger hoch. ›Er hat eine Aristokratin geheiratet, er war
Westemigrant ...‹ Adele fällt ihm ins Wort: ›Und er war Jude.‹ Alfred
stöhnt.«
Historisches zum Nachrecherchieren: Der Großvater Wilhelm Hauser
und seine Söhne Harald und Oskar sind bei Wikipedia zu finden.
Franziska Hauser erhielt für ihren Debütroman von 2015,
»Sommerdreieck«, den Debütantenpreis der lit. COLOGNE und stand
auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreis.
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Rezension
Die Gewitterschwimmerin
von Franziska Hauser