Autorin
Sabine Ibing
Die Toten schauen zu
von Gerald Kersh
»Heinz Horner erkannte, dass Bertsch phantasierte, und sagte: ›fettes
Schwein.‹ Er rüttelte Bertsch an der Schulter. Bertsch versuchte, ihn zu
beißen. Einer der drei namhaftesten Chirurgen der Welt sagte: ›Sie tun
ihm furchbar weh.‹ Horner zuckte mit den Achseln und Bertschs Qual war
solcher Gestalt, dass selbst eine kleine Störung in Form eines
Achselzuckens ihn aufheulen ließ wie einen Hund.«
Gerald Kersh, ein Meister des Noir, dies 1943 geschriebene Buch, neu
aufgelegt vom pulp master Verlag sollte Schullektüre sein. Denn kann die
Wahrheit zu brutal sein? Sie muss brutal sein, damit wir verstehen und
nicht vergessen. Dieser Roman ist eine Abrechnung mit dem
Kriegsverbrechen, das die Nazis im tschechischen Lidice begangen
hatten, damit diese Taten nicht in Vergessenheit geraten. Die Geschichte
geht zurück auf das Attentat auf Reinhard Heydrich, SS-
Obergruppenführer, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, im besetzten
Prag am 27. Mai 1942, der die Zerstörung des Dorfes Lidice als
Vergeltungsmaßnahme am 9. Juni 1942 befahl: Zerstörung, Erschießung,
Deportierung.
Das Dorf nennt sich hier Dudicka. Ein verschlafenes Nest, versteckt in den
idyllischen Bergen, wunderschön beschrieben. Wir lernen Anna und Max
kennen, die sich zum ersten Mal küssen. Alles ist friedlich. Doch dann wird
in der Nähe der SS-Obergruppenführer Bertsch von einem
vorbeifahrenden Motorradfahrer erschossen. Am Rand von Dudicka
finden die Deutschen ein Motorrad. Der Mörder muss in diesem Dorf
stecken. Ziemlich schnell ist auch klar, das Motorrad ist uralt, verrottet,
funktioniert nicht mehr. Doch darum geht es schon gar nicht mehr, an den
unschuldigen Dorfbewohnern wird ein Exempel zu statuiert.
»Der Hauptmann deutete auf eine vergilbte Fotografie in einem Rahmen,
die einen Mann mit Vollbart zeigte. ›Der Weihnachtsmann?‹, fragte er.
›Oder Karl Mordechai Marx?‹ ›Mein Vater, Herr Hauptmann, ein guter
Mensch.‹«
Häuser werden systematisch durchsucht, sämtliches Metall wird
abmontiert, mit dem Kirchendach wird begonnen, die Männer, Kinder,
Frauen werden getrennt eingesperrt.
»›Klang wie ein Maschinengewehr, Onkel Karel“, sagte Max. ›bedeutet es,
dass es Probleme geben wird, Vater?‹, wollte Anna wissen. ›Nein. Es
bedeutet Untergang‹, erwiderte der Lehrer gelassen.«
Die Dorfbewohner verstehen nicht, was vorgeht, der Wald mit den
Walnussbäumen wird abgeholzt, ihr Vermögen. Max und Anna konnten in
eine Höhle fliehen, halten sich an den Händen, ahnen nur in Fragmenten,
was unten im Dorf vor sich geht. Kersh beherrscht es, den Leser immer
wieder aus wunderschönen, idyllischen Augenblicken ins Grauen zu
werfen. Selbst in dieser Situation gibt es unter den eigenen Leuten
Verräter, die Glauben, auf diese Weise heil aus der Sache
herauszukommen.
»Anfangs habe ich gedacht, dass sie Menschen sind, schlechte Menschen
zwar, aber Menschen. Nun, es sind keine Menschen. Und sie betrachten
uns nicht als Menschen. Weißt du, was sie sagen? Ich habe sie das oft
sagen hören: Slawen sind Sklaven. Sie würden einen Hund besser
behandeln als jeden von uns.«
Deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit kommen zu Tage. Hier wird von
Anfang an alles sauber getrennt: Gold, Silber, Eisen, Kupfer, Messing,
durchgerechnet, wie viele Kugelhüllen mit einem Kerzenständer
hergestellt werden können. Skurrile, komische Szenen entstehen, denn die
Dorfbewohner nehmen den Feind hin als Zerstörer, wissen nicht, was
folgen wird. Doch irgendwann ist auch dem Dümmsten klar, weshalb sie
eine tiefe Kuhle ausheben sollen.
»Das wird heute Nacht unser Bett sein. Unsere Körper werden zu Blumen
und Gras und unsere Seelen gehen zu Gott. Habt Mut, denn das ist nicht
unser Ende. Unsere Toten schauen uns zu, meine Brüder.«
Am Ende verbleibt keine Menschenseele zurück. Das Dorf liegt in Schutt
und Asche. Insgesamt 405 Personen, denen 90 Häuser und eine Kirche, ein
Fluss, ein Steinbruch, Obsthaine und Walnussbäume Heimat bedeuten, ist
niedergewalzt. Erschossene Männer, deportierte Kinder, alle, die
germanisierbar erscheinen, werden in Pflegefamilien gegeben, die
Frauen geschunden verschleppt in Armeebordelle oder in
Konzentrationslager.
»Seine elegante, neue Uniform hing an ihm wie an einer Schneiderpuppe.
Unter einer geradezu ungebührlich keck aufgesetzten Uniformmütze
funkelten Brillengläser, rund wie die Augen einer Eule. Der Schirm der
Mütze warf einen Schatten auf die unauffällige Nase, den ebenso
unauffälligen Schnurrbart und auf einen Mund, der aussah wie von einem
Messer geschlitzt.«
Beginnt man zu lesen, ist klar, wie die Sache endet. Aber zu lesen, wie es
geschieht, lässt den Leser eine Gänsehaut hochkriechen, lässt ihn
erschüttert zurück. Ein Buch gegen das Vergessen, das in der heutigen
Zeit hochaktuell. Sprachlich gekonnt, mit erzählerischer Kraft, ein Buch,
das zur Pflichtlektüre gehört.
Kersh, 1911 in eine Familie englischer Juden geboren, war während des
Zweiten Weltkriegs ein Bestsellerautor. Er starb verarmt 1968 in den USA,
ganz vergessen war er jedoch nie. Sein großartiger Noir »Nachts in der
Stadt» wurde zweimal prominent verfilmt.
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