Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Die Wirklichkeit ist einzigartig, ihre Lesarten sind
unbegrenzt.«
Die Einwohner der Stadt Torréon in Mexiko stehen Kopf, im Rausch eines
Fußballspiels. Währenddessen wird ein Mann auf der Toilette der Bar
»Zum letzten Schluck« ermordet. Der Kopf von Farid Sabag steckt in einer
Plastiktüte, die Handgelenke sind an ein Rohr gefesselt, der Körper liegt in
einer Lache von Blut und Urin. Der Mörder von steht fest: einer von den
Ayala-Zwillingen war es. Nur welcher von beiden hat den Mann
umgebracht? Die eineiigen Zwillinge Remo von Rómulo sind eigentlich nicht
zu unterscheiden. Für die beiden Männer ist diese Gleichmacherei
allerdings eine Last, denn genauso ähnlich wie sie sich sehen, genauso
unterschiedlich ist ihre Persönlichkeit. Letztendlich sind sie kämpfende
Konkurrenten.
Remo begibt sich während der polizeilichen Ermittlung zurück in seine
therapeutische Behandlung. Zunächst fast stumm, bricht es in der
Therapiestunde aus ihm heraus. Erzählt er eine wilde Geschichte oder will
er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Warum ist der Bruder
verschwunden, wo versteckt sich Rómulo? Warum ist das Grab der
verstorbenen Mutter der beiden leer, wurde auch sie von den Zwillingen
ermordet? Sie hatte sich mit ihrem Vater zerstritten, einem
rücksichtslosen Großgrundbesitzer. Zur Strafe hatte sie sich
kommunistischen Guerilleros angeschlossen, mit ihnen gegen die
Rechtlosigkeit gekämpft. Die Zwillinge waren ohne die Mutter
aufgewachsen, bei ihrem Vater verblieben, einem blitzgescheiten Richter,
der die Jungen in ein katholisches Internat abschob, wo sie viel Blödsinn
lernten, von Missbrauch ist die Rede, von einem Brand.
Der Psychiater ist der Erzähler der Geschichte, ist gewillt Remo zu glauben,
aber er will die Sache wissenschaftlich überprüfen. Er berichtet von der
Vergangenheit, zu diesem Zeitpunkt ist sein Patient Remo bereits
verstorbenen. Er wühlt in Polizeiberichten, Gerichtsakten und
Therapieprotokollen. Was ist die Wahrheit? Taugen Erinnerungen etwas,
oder verbiegen sie sich im Laufe der Zeit zu lügen? Was ist Lüge, was
menschliche Interpretation von Geschehnissen?
Die Zwillinge waren vor langer Zeit beim Großen Zauberer Padilla als
Assistenten eingestellt. Auch hier tut sich ein Geheimnis auf. Der Journalist
Pepe Zamora, ein trockener Alkoholiker, sucht nach Magda, genannt La
Niña, eine Heilige, die Kranke gesunden lässt, Wunder vollbringen kann. Er
will eine Story über sie schreiben. Gibt es Wunder? Dass amerikanisch-
mexikanische Grenzregime wird zum Thema.
Der Roman ist als Kriminalroman ausgewiesen. Diese Einordnung ist
meiner Meinung nach falsch, denn der Stoff ist ein ziemlich umfangreich
mit verschiedenen Erzählsträngen und es geht letztendlich nicht um die
Aufklärung der Tat. Die gibt es am Ende auch nicht geboten. Der typische
Krimileser wird sich wahrscheinlich auch langweilen. Ich habe das Buch
dreimal angefangen, wieder weggelegt, dann noch mal neu angefangen.
Kleinste Puzzlestücke auf verschiedenen Zeitebenen setzen sich langsam
zu einem Komplex zusammen. Wer beim Lesen nicht aufpasst, verliert den
Faden. Ich würde den Roman nicht jedem Leser empfehlen. Kein leichter
Stoff, eine komplizierte sprunghafte Dramaturgie, nichts, was man zur
Entspannung überfliegt. Ein interessantes Buch über Zwillinge, deren
Debakel der Verwechselbarkeit, ein Buch über Mexico, über die Wahrheit,
Religion und vieles mehr. Ein Krimi ist es sicher nicht.
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