Autorin
Sabine Ibing
»Ein Muslim, der nach Afghanistan geht, tötet seine Brüder und ist ein
dreckiger Mörder.«
Frankreich, eine gespaltene Gesellschaft, oben, unten, schwarz und
weiß, Religionen, ein Konflikt ohne Ende, Rassismus, Privilegien,
brennende Vorstädte. Menschen, die sich alles nehmen, andere die
mimosenhaft jede Vokabel untersuchen, ob nicht irgendwo eine
Diskriminierung im Satz versteckt sei. Völlig verschiedene Typen, die in
diesem Plot auf den Show-down zureiten. Eins der besten Bücher, die ich
in diesem Jahr gelesen habe.
Mit Romain Roller beginnt der Roman, ein Soldat, der aus Afghanistan
zurückkehrt, völlig traumatisiert nach einem Anschlag. Er hat überlebt.
Ein Freund ist tot, Farid, der andere, liegt gelähmt im Krankenhaus, die
Beine amputiert. Warum durfte Romain weiterleben? Er fühlt sich wie ein
Zombie, innen ist alles tot, niemand, der nicht in Afghanistan war, kann
begreifen, was dort passiert, kann ihn begreifen, fühlen, was er fühlt.
Bevor die Soldaten in die Heimat kehren, werden sie in eine Art
Touristenhotel gebracht, damit sie entspannt nach Hause fahren. Dort
trifft Romain auf die Journalistin Marion und eine Amor fou beginnt. Sie
können nicht voneinander lassen, auch als Romain wieder bei seiner
Familie lebt. Romain reagiert hektisch auf »normale« Situationen,
Geräusche, Kindergeschrei, ein Auto, dass auf der Autobahn überholt,
identifiziert er innerlich als Feind, zu seiner Frau findet er keinen
Zugang. Marion ist seine Obsession.
Marion wiederum ist mit dem schwerreichen Geschäftsmann Francois
Vély verheiratet. Ein Fettnäpfchentreter, der sorglos durch die Welt
stapft, nicht bedenkt, was sein Verhalten als berühmter Mensch
auslösen könnte. Nach seiner Scheidung heiratet er Marion, nimmt
seiner Frau die Kinder weg. Die Frau bringt sich später um, was ihm
öffentlich zur Last gelegt wird. Die Kinder akzeptieren die neue Familie
nicht, sind renitent. Vély ist katholisch, sein Vater hieß noch Lévy, war
Jude, wechselte ins Christentum.
»Andere Bürgersöhne wurden Anarchisten, Thibault lebte seine
Ablehnung jeglicher Autorität als Spieler aus. All diese Rebellen, diese
Versehrten mussten sich nach ihrer überbehüteten Kindheit das Leiden
selbst erschaffen, sie waren Vatersöhne, die glaubten., sie könnten
ihrem vorgezeichneten Weg entgehen, indem sie in den besetzten
Häusern von Belle-ville oder Barbès Joins rauchten, die sie aus der
Kasse ihrer Väter und Mütter bezahlten.«
Vélys Sohn, Thibault, mutiert plötzlich zum erzkonservativen Juden, will
den Talmud in den USA studieren. Ein Journalist möchte ein Interview mit
Francois Vély und er fotografiert den Unternehmer mitten in einem
diskussionswürdigen Kunstwerk, das als rassistisch bezeichnet wird. Vély
denkt sich nichts dabei, wie immer. Ist doch bloß Kunst, Provokation.
»Francois hatte die politische Brisanz der Skulptur nicht erkannt,
Kunstwerke waren ein Teil seines Lebens, er war immun gegen
Schockelemente.« – »Mehrere User teilten den Post, die Empörung
schaukelte sich hoch, die Nachricht wurde überall aufgegriffen, auf der
ganzen Welt verbreitet … auch das Image seines Unternehmens litt, auf
ihm lastete nun der Verdacht des Rassismus und der Diskriminierung.«
Und dann schlägt die Presse zu: Er sei ein Rassist, stinkreicher
Unternehmer, der die Menschen in anderen Kontinenten ausbeutet, ein
moderner Sklavenhalter. Der Jude schlechthin, der geldgeile. Vély
kapiert nicht, was hier abgeht. Immer weiter wird der Fall medial
aufgeblasen. Francois hat nicht einen Hauch der Chance, sich zu
wehren, irgendetwas richtigzustellen.
»Es wurde stillschweigend angenommen, dass seine Hautfarbe bei der
Entscheidung des Präsidenten den Ausschlag gegeben hatte, dass es um
Diversität gegangen war.«
Osman Diboula, schwarz, stammt aus dem Problemviertel Clichy-sur-Bois
in Paris, hat sich als Streetworker einen Namen gemacht. Der Präsident
war auf ihn aufmerksam geworden. Ein Farbiger aus den Slums, so
einen suchte er für sein Team als Berater. Aufgestiegen in den
Präsidentenpalast lernt er dort Sonia kennen. Sie ist auch farbig,
entstammt aber einer reichen Familie, hat die besten Universitäten
besucht. Sie sind ein Paar.
»Sonia, es ist keine Ausnahme. Sie lassen uns ständig spüren, dass wir
nicht dazugehören! Das kannst du doch nicht leugnen!«
Osman fühlt sich in einer Sitzung beleidigt von einem Konservativen,
diskriminiert. Er steht auf und verlässt den Raum, obwohl ihn der
Präsident auffordert zu bleiben. Osman verliert seinen Job. Er ist stolz,
lässt sich nicht beleidigen. Sonia ist anderer Meinung. Sie glaubt, wenn
man weghört, sich nicht auf den Schlips getreten fühlt, kann man seinen
Weg gehen. Sie ist doppelt unter Beschuss in der Politik, sie ist schwarz
und Frau. Wer sich umdreht und geht, hat verloren. Nur Weicheier und
Dumme fühlen sich beleidigt, nehmen das als Entschuldigung für die
eigene Unzulänglichkeit. Sonia hasst die die Familie und die alten
Freunde von Osman, denn sie interpretieren alles um sich herum als
Rassismus, das einzige Thema, das sie haben. Issa, ist einer von ihnen,
machtgeil, Kleinunternehmer, der sich in islamistische
Verschwörungstheorien verläuft.
»Am Tisch wurde über die Wirtschaftsabkommen mit Afrika gesprochen.
Osman hörte, wie einige die ›afrofranzösische Diaspora‹ beschworen,
dabei fühlte er sich als Franzose, einer mit afrikanischen Wurzeln, ja,
aber Franzose. Er war in Frankreich geboren und überhaupt nur
dreimal im Leben mit seinen Eltern in die Ferien an die Elfenbeinküste
gefahren, er fühlte sich Afrika emotional nicht besonders verbunden.
Das Land interessierte ihn als Tourist. Nicht als Anker. Nicht als
Bezugspunkt.«
Karine Tuil zeigt verschiedene Gesellschaftsschichten des modernen
Frankreichs. Sie lässt die Protagonisten sprechen, mit all ihrer Arroganz,
mit Hass, mit Verzweiflung, zeigt somit alle Positionen auf, in allen
Widersprüchen, die Schwierigkeit, einen Konsens zu finden. Die Autorin
wertet nie, nicht einmal hat man das Gefühl, auf eine Seite gezogen zu
werden. Der Leser fühlt sich als Zuschauer in einem Spiel, das ständig
die Positionen wechselt. In kurzen Kapiteln springen wir von einem zum
anderen Protagonisten, werden durch den Roman gejagt, wie die
Protagonisten, die angetrieben durch ihr Leben hetzen: Die Ruhelosen.
Das Buch ist ein Gesellschaftsroman, aber auch ein Politthriller,
bitterbös, abgründig, komplex, absolut spannend, mitreißend,
mitdenkend. »Die Moral ist eine variable Größe«, heißt es, und darum
geht es. Scheitern kann jeder, ob oben oder unten, ganz schnell reißt
die Menge dir die Beine weg, wenn du versuchst aufzustehen. Ein
Gesellschaftsbild des heutigen Frankreichs, sichtbare und unsichtbare
Grenzen des Systems, atemberaubend.
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von Karine Tuil