Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Diese Fremdheit in mir
von Orhan Pamuk
(Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karataş und seiner
Freunde sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des
Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012)
Eine langer Titel für ein wundervolles Buch, die im Prinzip eine
Zusammenfassung ist. Zur Vervollständigung gleich als Zitat den Beginn
dieses Romans: «Das ist die Geschichte vom Leben und den Träumen des
Joghurt- und Boza-Verkäufers Mevlut Karataş. Geboren wurde Mevlut 1957
im äußersten Westen Asiens, in einem mittelanatolischen Dorf mit Blick auf
einen fernen, dunstigen See. Mit zwölf kam er nach Istanbul und lebte von
da an in der Hauptstadt der Welt. Mit fünfundzwanzig entführte er aus
einem Dorf ein Mädchen»
Allein die Kapitelüberschriften zu durchstöbern ist ein Genuss: «Von der
Schwierigkeit, ein Mädchen zu entführen», «Wozu es führt, wenn man an
die Moscheemauer kommunistische Plakate klebt» oder «Mevlut in den
entlegensten Vierteln - Hunde merken gleich, wer nicht zu uns gehört»,
«Ich habe in diesen Straßen mein ganzes Leben verbracht». Genau hier
drückt sich aus, was das Buch ausmacht, nämlich Humor und Melancholie,
ein Rückblick auf gemütliche alte Zeiten, denen Mevlut hinterhertrauert.
Ein Leben von einfachen Menschen aus dem Dorf in der großen Stadt, die
alle mit großen Träumen herzogen und sich durch das Leben schlagen.
Der ein oder andere hat Erfolg, die Mehrheit nicht.
Orhan Pamuk erhielt 2006 den Nobelpreis für Literatur. In vielen Büchern
beschäftigt er sich mit Istanbul. Und dies ist für mich sein bisher bester
Roman. Die Figuren sind authentisch und liebevoll gezeichnet. Pamuk selbt
hat sich anfänglich als Straßenverkäufer, Kellner und Stromableser seinen
Lebensunterhalt in Istanbul verdient. Der Roman ist aus den Perspektiven
verschiedener Personen geschrieben. Der Hauptakteur ist Mevlut, der
Boza-Verkäufer. Wichtige Nebenfiguren sind seine Cousins Korkut und
der verschlagene Süleyman, der Freund Ferhat und die Schwestern
Samiha, Rayiha und Wediha.
In den 50gern ziehen die Einwohner ganzer kurdischer Dörfer nach
Istanbul, zäunen in Vorstadtgebieten ein Stück Land ein und errichten sich
illegal kleine Häuser, genannt Gecekondus. Um Wähler zu gewinnen,
dürfen die Leute diese Hütten ins Grundbuch eintragen. Die meisten
Männer verdingen sich als Joghurtverkäufer auf den Straßen. Mevluts
Vater gleichsam, war mit dem Bruder hergekommen. Allerdings brachte
der Bruder die Familie mit, Mevluts Vater nur den Sohn. Frau und Töchter
blieben im Dorf. Mevlut wird auf die Schule geschickt und lernt fleißig.
Allerdings schafft er nur die Mittelschule, die Oberschule bricht er ab, weil
er geschäftlich zu oft unterwegs ist, sich ablenken lässt. Aus mit dem
Traum vom Studium. Er hilft seinem Vater beim Joghurtverkauf und
abends bis spät in die Nacht verkaufen sie den Winter über Boza, ein
Getränk, das aus fermentierter Hirse hergestellt wird. In der Kälte
schultert er sein Tragejoch, rechts und links die Bozakannen, in den
Taschen Säckchen mit Zimt und mit Leblebi, gerösteten Kichererbsen, zum
Bestreuen. «Da Boza bei Hitze leicht verdirbt, wurde es in Istanbul zu
osmanischen Zeiten vor allem im Winter verkauft, in Läden, die allerdings
schon im Gründungsjahr der Republik, 1923, weitgehend von deutschen
Bierstuben verdrängt waren. Auf der Straße wurde Boza aber weiterhin
von umherziehenden Verkäufern feilgeboten. Spätestens ab den
sechziger Jahren war der Boza-Verkauf nur noch ihre Domäne, und wenn
sie an Winterabenden mit ihrem langgezogenen `Bozaa!´ durch armselige
Viertel zogen, riefen sie uns damit vergangene Jahrhunderte in
Erinnerung, verlorene, glückliche Tage.»
Boza steht für Tradition und für das Alte in diesem Roman. Und mit der
Verdrängung des Bozas tritt die Moderne ein. Manch einer trinkt das
Getränk um Erinnerungen hervorzurufen, saugt Vergangenes ein.
Auf der Hochzeit von seinem Cousin Korkut mit Wediha verliebt sich der
junge Mevlet in die Samiha, Wedihas Schwester. Süleyman erzählt Mevlut,
das Mädchen heiße Rayiha (er will selbst um die schöne Samiha freien).
Mevlet schreibt Rayiha nun drei Jahre lang Liebesbriefe. Zu guter Letzt
entführt Mevlut sie in Einverständnis, da er kein Brautgeld bezahlen kann.
Im Hellen erkennt er, er hat das falsche Mädchen entfüht. Mevlut ist
ehrlich und ehrenhaft, heiratet das Mädchen selbstverständlich, verliert
kein Wort über die Verwechselung und wird glücklich mit Rayiha. Diese
Ehrlichkeit und seine Art alles hinzunehmen und seine Naivität werden ihm
noch manches Mal im Wege stehen. Denn in Isatanbul geht nichts ohne
Bestechung, vieles nicht ohne Betrug.
Joghurt wird nun in Gläsern verkauft, mit Boza wird es schwierig. Mevlut
kauft sich einen Handkarren, verkauft Reis mit Kichererbsen und
Hähnchen, versucht sich als Kellner, Eisverkäufer. Die Zeit als
Parkplatzwächter ist köstlich beschrieben. Die Wächter passen auf die
BMW’s usw. auf, damit die Wagen nicht geklaut werden. Banden, mit denen
die Wächter zusammenarbeiten, nehmen die Autos derweil auseinander,
wechseln Reifen und Innereien aus, der Besitzer bedankt sich mit dickem
Trinkgeld für’s Aufpassen. Als Stromableser wird Mevlut in die
Betrügereien des Stromabzapfens eingeweiht. Fast jeder zieht illegal
Strom. Man muss den Leuten draufkommen, wie sie das machen und dann
abkassieren, damit man es nicht meldet, abkassieren, damit man den
Strom nicht sperrt, wenn Rechnungen offen sind. Der Roman gibt Einblick
in Korruption, in die Welt des kleinen Mannes, in die strengen Sitten und
Riten der Gesellschaft. Mevlut ist sehr gläubig, hält sich an die Regeln, aber
er geht nicht zum Freitagsgebet und lässt sich unter dem Tisch bei
Hochzeiten Rake einschenken.
Auch die Gesellschaft entwickelt sich, Frauen rauchen, weigern sich
verheiratet zu werden, tragen kein Kopftuch, aber Minröcke, sie studieren
sogar. Aber nicht überall. In den Vorstädten funktioniert zum größten Teil
noch das alte Leben, dort kann man am Abend auch noch Boza
verkaufen. Hier gibt es noch Heiratsvermittler, denn Liebe entsteht nicht
dadurch, dass man sich anschaut, sondern in gutem Zusammenleben
miteinander, Liebe besteht aus Vertrauen und Respekt. Und das entsteht
eben nach der Hochzeit. Mevlut will mit Politik nichts zu tun haben, rutscht
aber naiv in die ein oder andere Sache hinein. So werden die politischen
Ebenen nur kurz angerissen.
Der gutmütige Mevlut wird von jedem ausgenutzt, insbesondere von
seiner Familie. Er ist ein Träumer, ein Mann der Liebe, ein Dulder. Der
Roman ist geprägt von Mevluts Liebe zu Istanbul, seiner Frau und die zum
Boza. Wir ziehen mit ihm durch die die verschiedenen Viertel von Istanbul,
atmen die Gerüche ein und hören den Klang der veränderten Zeiten.
Voyeuristisch schauen wir ihm über die Schulter, wenn er sich in die
Wohnungen begibt um sein Boza auszuschenken. Ein wenig melancholisch,
doch meist heiter, erleben wir mit Mevlet, seiner Familie und seinen
Freunden 25 Jahre Istanbul, vom Weg zum Pflaster, zum Asphalt, von der
wackligen Bruchbude mit Lehmboden, die auf drei Stockwerke erweitert
wird, das zwölfstöckige Hochhaus. Von der bezahlbaren Miete zum
unbezahlbaren Wohnungseigentum. Die Toilette ist anfangs nur ein Loch
im Boden, in den Hochhäusern gibt es geflieste Bäder mit Dusche. Vom
Kopftuch zu Armani, vom Handkarren zur Limousine. Richtig wohl fühlen
sich die alten Bewohner in den neuen Behausungen nicht. Dies ist die
Geschichte der Zerstörung von Stadtteilen, sozialen Umstrukturierungen,
von gesellschaftlicher Veränderung, von Korruption. Hadschi Hamit Vural
wird benannt, der Leute aus seinem Dorf herankarrte, die für ihn arbeiten
durften, wobei er ein gigantisches Immobilienimperium aufbaut. Der
Roman steht für die Metropole Istanbul, da in kurzer Zeit ein riesiger
Schritt getan wurde. Letztendlich steht die Entwicklung der Stadt für jede
heutige Metropole: Die Vertreibung der armen Menschen aus ihren
Wohngebieten, teure Modernisierung, Immobiliengeschäfte.
Interessant ist auch der Aufbau der Geschichte. Mevlut wird aus
auktorialer Sicht dargestellt, die anderen Protagonisten sprechen in der
Ich-Form. Orhan Pamuk hat so mehr Möglichkeiten, die Figur Mevlut zu
betrachten, distanzierter. Die anderen Personen können aus ihrer Ich-
Perspektive, berichten, lügen, verdrehen, schimpfen.
Am Ende legt man traurig das Buch beiseite, schaut, ob man nicht doch ein
paar weitere Seiten herausschütteln kann. Leider ist man am Ende
angelangt. «Boooooza» klingt der Ruf von Mevlut noch in den Ohren.
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