Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Wenn ihr eure Milch ausgetrunken habt, gebt den
Karton bitte zurück in den Kasten.«
Ein hervorragender Roman! Auf der vorletzten Seite atmete ich
erleichtert auf, um das Buch mit dem letzten Satz mit spitzen Fingern
auf’s Sofa fallen zu lassen, mit einem »Wahhh!«. Das hatte bisher kein
Buch geschafft! Sicher kann man den Roman unter dem Genre Crime
führen, denn es sind jede Menge kriminelle Handlungen enthalten. In
Japan gibt es das Genre: »Iyamisu«. Übersetzen kann man das nicht,
wobei »iya« so viel wie abscheulich, und »misu« sich von »mystery«
ableitet. In Japan bezeichnet man so Kriminalromane mit besonders
ekelhaftem Inhalt: »Iyamisu«. Kanae Minato ist eine Meisterin dieses
Fachs. Es geht dabei nicht um blutrünstige Abstecherei, Augenpulen,
solche Dinge schockieren mich nicht, ekeln eher, nicht mein Genre.
Dieser Roman sitzt tief in der Magenkuhle durch psychische
Abgründe, subtiles Handeln.
»Warum also habe ich beschlossen zu kündigen? Weil Manamis Tod
kein Unfall war. Sie wurde ermordet, und zwar von Schülern aus
dieser Klasse.«
Der letzte Tag vor den Ferien in Japan. Die Lehrerin hält eine Rede
über die Milch, das Regierungsprojekt Milch, philosophiert über dies
und das. Viele Dinge des Monologs dienen der Vorbereitung zum
Schlag. Sie wird nicht wiederkommen in diese Schule, zwei Kinder aus
der Klasse sind schuld, denn die haben das Kind der Lehrerin
umgebracht. Warum und wie sie es angestellt haben, verrate ich hier
nicht, auch nicht, warum die Mutter nicht zur Polizei geht. Nur so viel
noch: Die Lehrerin hat sich gerächt, die Milch der Übeltäter mit Blut
eines Aidskranken versetzt.
»Die Inkubationszeit für das HI-Virus beträgt meist fünf bis zehn
Jahre, Zeit genug für euch, über den Wert des Lebens
nachzudenken.«
Und das ist lediglich der Anfang. Für diese Kinder geht das Leben
weiter, für diese Klasse. Doch nichts ist mehr wie vorher. Pulp-Fiction
pur! Ungewöhnlich ist die distanzierte Erzählweise, die japanische.
Nach der Rede der Lehrerin wird die Geschichte aus verschiedenen
Sichtweisen der einzelnen Personen weiterberichtet, Schüler, Lehrer,
die Mutter des einen Jungen, kommen zu Wort. Leistungsdruck,
fehlende Anerkennung, Mobbing, elektronische Welt, Themen, die
das Schülerleben durchziehen.
»Und wenn man es einmal getan hat, will man das Gefühl vielleicht
wieder haben. Man braucht jemanden, den man an den Pranger
stellen kann, um dieses Hochgefühl wieder zu erleben. Man hat
vielleicht mit wirklich fiesen Kerlen angefangen, doch beim nächsten
Mal ist man schon weniger wählerisch und dafür erfindungsreicher in
seinen Anschuldigungen. An dem Punkt artet das Ganze dann
praktisch in eine Hexenjagd aus – genau wie im Mittelalter. Ich
glaube, wir Normalbürger haben vielleicht eine Grundregel
vergessen – nämlich, dass wir eigentlich kein Recht haben, über
jemand anderen zu richten.«
Der Roman ist bereits 2008 in Japan erschienen, wurde verfilmt und
erhielt eine Oscar-Nominierung, leider ist das Buch erst jetzt bei uns
erschienen. Die Autorin hat verschiedene Perspektiven anhand der
einzelnen Protagonisten je Kapitel verwandt. Hierdurch erhält man
Einblick in die Seelen der Figuren, versteht die Verkettung von
Ereignissen, Hintergründe. Sie spielt mit dem Leser, lässt Mitleid
entstehen, Verständnis, wird dann wieder herausgeworfen, weil sich
die Handlung dreht. Depression, Hinterhalt, soziopathische Züge,
verhätschelte Kinder, kleine Monster, verletzte Seelen, Abgehängte
im Bildungssystem, unerträgliches Mobbing, hilflose Lehrer, einzelne
Situationen, die beim Lesen tief hineingehen. Mit Fassungslosigkeit
liest man, kann nicht glauben, was passiert, das obendrein in einem
ruhigen Tonfall vorgetragen, völlig distanziert, als wäre das alles
Normalität.
»Ohne Geld kam man da draußen nicht weit. Es war immer dasselbe:
Die Erwachsenen erteilten einem all diese Ratschläge, aber sie
begriffen diese Welt nur aus ihrer Sicht – sie konnten sich nicht
daran erinnern, wie es ist, ein Jugendlicher zu sein.«
Ein kluger Roman, der schockiert, nachdenklich macht über eine Welt
von Leistungssystemen, die in gleicher Weise eine Heerschar kleiner
Egoisten produziert.
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