Autorin
Sabine Ibing
In letzter Zeit sind einige Bücher erschienen; die sich mit der Aufarbeitung
der Deutschen Geschichte nach dem 2. Weltkrieg beschäftigen. Dies ist
eins davon. Nach dem Krieg war schnell die herrschende Klasse wieder am
Ruder. Der Teppich wurde angehoben und Dreck darunter gekehrt, da
liegt er heute noch. Blitzblank sauber gab sich die Gesellschaft, man wollte
nur noch vergessen. Die Nürnberger Prozesse hatten die Schuldigen
verurteilt. Wer nicht darunter fiel, war sauber. Die Amerikaner hatten den
Deutschen gestattet, dass die Ärztekammer und die Anwaltskammer
selbst entscheiden durften, wer im Sinne der Anklage verurteilt werden
sollte. Und so ließ man die Räuberhauptmänner über die Räuber richten.
Niemand hatte geltende Gesetze übertreten, alles im Rahmen, so wurde
geurteilt. Den Amerikanern war es egal, denn die hatten mehr Furcht vor
den Kommunisten, als vor ein paar Nazis und ein paar von denen konnten
sie für eigene Zwecke gut gebrauchen.
»Zur Anklage kam es letztlich gerade einmal in 16.740 Fällen – und nur
14.693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten.
Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6.656 Personen, für 5.184
Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch, oft aus Mangel an
Beweisen. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit
geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ganze neun Prozent aller
Haftstrafen waren höher als Fünf Jahre.«
Das kollektive Credo lautete: »Herrgott, irgendwann muss doch mal
Schluss sein!«. Allerdings war dies ein großer Fehler. Genau diese Herren,
die unter dem alten Regime etwas zu sagen hatten, prägten die
Nachkriegszeit, unser neues Rechtssystem, unsere Wirtschaft, die
Anwaltskammer, die Bundeswehr und den Bundesnachrichtendienst.
Das erste Dossier in diesem Buch, »Der ›ehrenwerte‹ Herr aus Marburg«,
berichtet von dem Rechtsprofessor Erich Schwinge, der während der
Nazizeit Kriegsrichter war und zweifelhafte Todesurteile fällte, und der
nach dem Krieg als Rechtsprofessor an der Universität lehrte, juristische
Bücher verfasste und den kommenden Juristen »das notwendige
deutsche Rechtsempfinden beibrachte«.
Im zweiten Dossier wird über Arnold Strippel berichtet, Wachmann in den
Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald, der von
Lagerinsassen »als besonders brutal, als übler Schläger und Peiniger«
beschrieben wird, am 1. Juni 1949 »wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21
Fällen zu 21 Mal lebenslänglich verurteilt«. Nach der Wiederaufnahme des
Verfahrens wurde er freigesprochen, erhielt Haftentschädigung in Höhe
von 121.500 Mark Haftentschädigung.
»Wie beurteilt die Bundesregierung, dass der ehemalige SS-
Obersturmbandführer und KZ-Wächter Strippel … eine
Haftentschädigung von 120.000 Mark erhält, während Opfer der NS-
Gewaltherrschaft nur eine Entschädigung von 5 DM pro Tag der
Freiheitsentziehung erhalten haben?«
So lautet eine Anfrage. In der Antwort wird erklärt, Strippel sei ja
zusätzlich finanzieller Schaden durch »Verdienstausfall, Erstattung von
Sozialversicherungsausfall, Auslagen im Strafverfahren« entstanden.
Strippel kaufte sich in Frankfurt eine Eigentumswohnung, erhielt
selbstverständlich Rente, war ein wohlhabender, ehrenhafter Bürger. - Die
Opfer hatten anscheinend keinen finanziellen Ausfall.
Fünf Dossiers, die aufzeigen, wie Täter wieder aufstiegen. Helmut Ortner
zeigt auch, wie mit Opfern umgegangen wurde. In der Nachkriegszeit
wurde gelogen, betrogen und weggeschaut. Der Staat und sein
Rechtssystem haben versagt.
Nicht alle Richter haben weggeschaut oder kamen selbst aus der NS-Ecke.
Allerdings kann man diese an den Händen abzählen. Der Ungnädigste war
der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den großen
Auschwitz-Prozess 1963 zustande brachte, der da sagte:
»Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland.«
Geschichten, die den nicht verwundern, der sich längst mit dem Thema
befasst hat, die doch immer wieder Übelkeit erzeugen. Wer allerdings
glaubt, Deutschland wurde nach dem Krieg entnazifiziert, der kann sich
hier vom Gegenteil überzeugen. Die Jungs von oben waren gleich wieder
obenauf. Eine Empfehlung an jeden Geschichtslehrer als Klassenlektüre.
»Tatsache ist: Die Gewalttäter in den roten Roben wurden nie zur
Rechenschaft gezogen. Außer ein paar lästigen, aber ohnmächtigen
Mahnern drängte im Nachkriegsdeutschland niemand darauf, sich mit den
Mordtaten und Unrechtsurteilen der NS-Justiz auseinanderzusetzen. Am
wenigsten die Justiz selbst.«
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Gnadenlos Deutsch
Fünf Dossiers
von Helmut Ortner