Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
In den Straßen die Wut
von Gattis Ryan
»Wenn ihr in so ’nem Viertel aufwachst wie ich, wo der Waffenladen
Kugeln für fünfundzwanzig Cent das Stück verkauft, an alle mit üblen
Plänen im Kopf und einem Vierteldollar in der Tasche, dann würdet ihr
vielleicht genauso werden.«
1991 tobte in LA zwei Wochen lang der Ausnahmezustand. Wenn man sich
die letzten Zeitungsartikel anschaut, sieht, wie weiße Polizisten Schwarze
erschießen, so kann man sich vorstellen, dass sich genau dieses
Szenarium demnächst wiederholt.
»Keine zwei Wochen nachdem Rodney King zusammengeschlagen wurde,
im März 1991, wurde die fünfzehnjährige Latasha Harlins von einer
koreanischen Ladenbesitzerin namens Soon Ja Du erschossen. Auch
davon gab es ein Video. ... schoss Latasha in den Rücken, wurde wegen
Totschlags zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt, ..., obwohl auf die
Tat, der sie für schuldig befunden wurde, eine Höchststrafe von sechzehn
Jahren Haft steht. Verständlicherweise wurde das in der schwarzen
Bevölkerung als Fehlurteil gewertet, und die Leute wurden sehr wütend.«
Die Geschichte wird von diversen Icherzählern wiedergegeben. Jeder
erzählt in der ihm eigenen Sprache. Gerade das macht die Geschichte
lebendig. Es kommen ehrliche Bewohner des Viertels zu Wort, die zur
Gewalt greifen, um ihr Eigentum zu beschützen, da die Polizei nicht mehr
Herr der Lage wird. Geschäfte werden geplündert, Autos und Häuser
werden angesteckt. Drogensüchtige drehen durch. Gangster nutzen das
Chaos, um alte Rechnungen zu quittieren. Läden und Lagerräume werden
ausgeräumt, Gangs bestehlen sich gegenseitig und es kommt zu einem
offenen Krieg der Homeboys. Ein Polizist erzählt, ein Feuerwehrmann.
Menschen, deren Aufgabe es ist zu helfen, werden sinnlos angegriffen.
Die Bewohner in diesem Viertel sehnen sich nach Recht und Ordnung,
fühlen sich verlassen von der Obrigkeit.
Gattis Ryan hat gute Kontakte in das Viertel, recherchierte die Ereignisse,
interviewte Leute, die sich direkt im Geschehen aufhielten.
Herausgekommen ist ein Roman in Form einer Reportage. Es ist aber weit
mehr, denn es ist kein sachlicher Bericht. Jeder Protagonist berichtet
ehrlich in seiner Wut, mit seinen Ängsten, aus Entsetzen, mit eiskalter
Berechnung, mit seinem zugedröhnten Kopf. Ein Zustandsbericht zur
Situation in amerikanischen Großstädten, zum Umgang mit er schwarzen
Bevölkerung.
»Ich muss was beichten. Manchmal weiß ich nicht die ganze Zeit, was ich
eigentlich tue. Manchmal tu ich’s einfach. Impulsiv, sagt Clever immer. Ich
lebe nach meinen Trieben, irgendwas platzt mir grad so ins Hirn, schon
bewegen sich meine Muskeln, und ich tu’s, ehe ich’s richtig merke. Das
Ergebnis ist manchmal gut, manchmal scheiße. Hängt davon ab. Bereue
ich was? Irgendwie schon. Aber nicht so richtig.«
Die Geschichte beginnt mit dem brutalen Tod des rechtschaffenen
Tacobäckers Ernesto Cruz: Zur falschen Zeit am falschen Ort. Seine
Schwester Payasa, eine Chola, ein weibliches Gangmitglied, plant
Vergeltung. Ernesto stirbt vor dem Haus der Krankenschwester Gloria, die
später aus dem Krankenhaus berichtet. Hier trifft sie auf den
Feuerwehrmann Anthony, mit dem sie eine flirtende Verbindung hat,
dessen schwerverletzen Kollegen sie betreut. Wir lernen Gangs kennen,
die sich gegenseitig abziehen, sich gegenseitig vernichten wollen. Es fließt
sehr viel Blut in diesem Roman, viele Menschen sterben, teilweise auf
ekelhaft brutale Weise. Hier geht es Aber nicht ums Abschlachten oder
Voyorismus, die Geschichte beschreibt glasklar die Wirklichkeit. Big Fates
Latinogang rechnet mit den Homeboys einer anderen Gang ab. Kluge
Gangster, belesen, die sich im Rechtssystem auskennen, genauso wie in
der Kriminaltechnik. Sie nutzen das System aus, sagen grinsend nur das
Wort Anwalt, sonst nichts. Sie verwischen Spuren, verunreinigen sie, legen
falsche. Bis heute konnten einige der damals begannen Morde nicht
aufgeklärt werden.
Spannend, krass, brutal, ein Buch über das reale Amerika. Was passiert,
wenn man eine ganze Bevölkerungsschicht ohne Bildung und chancenlos
ohne Zukunft heranzieht ... Rassismus an jeder Straßenecke zwischen
allen Bevölkerungsgruppen. Eine Gesellschaft ohne Moral, das Gesetz der
Straße gilt. Der asiatische Junge bringt dem Vater bei, dass in der
Verfassung steht, jeder darf sein Eigentum beschützen. Eine Waffe darf
man selbstverständlich besitzen. Was passiert, wenn der kleine Mann das
wörtlich nimmt? Was passiert, wenn den Chancenlosen die Hutschnur
platzt? Ein Ritt durch sechs Höllentage. Am Ende des Buchs atmet man auf,
ist sich aber bewusst, jeden Tag kann diese Apokalypse fortgeführt
werden.
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