Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Schon Thirzas Mutter wäre gern Richterin geworden. Doch
dann kam Carlos Zorniger dazwischen.«
Etwas über neun Jahre hat Petra Morsbach an diesem Roman
geschrieben. Und hier stimmt jeder Satz, jedes Wort. Sie hat gut
recherchiert, mit fünfzig Juristen gesprochen, dreißig davon waren
Richter, hat das Manuskript von Richtern gegenlesen lassen. Für den
Roman erhielt sie 2018 den Wilhelm Rabe Preis.
Man kann den Roman in einen Satz beschreiben: Das Leben der Thirza
Zorniger, einer Richterin. Oder auch doch nicht, denn eigentlich geht es
um die Menschen, Menschen im Gericht: Angeklagte, Anklagende, Richter,
Rechtsanwälte, Staatsanwälte. Hinter jedem Fall steckt ein Mensch, seine
Intension, Emotion, sich zu beklagen, sich zu verteidigen. Auch Juristen
sind Menschen, garantiert verschiedene Typen, verschiedene
Arbeitsweisen, Denkansätze. Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte, ein
Mensch. Recht ist nicht gerecht, nicht unbedingt. Es ist ein Leitfaden der
Gesellschaft, nachdem man sich zu richten hat.
Thirza Zorniger wächst bei ihrem Großvater und den Tanten auf, die
Mutter ist verstorben, der Vater ist ein Schauspieler, der die Frauen wie
Unterhosen wechselt, reichlich Nachwuchs in die Welt setzt. Kurz wird das
Jurastudium angesprochen, doch schnell sind wir bei der ersten Stelle.
»›Wieso ist der Mandant dein Feind?‹
›Der Mandant hat seine eigene Wahrnehmung.‹«
Der Mandant lügt dich an, vergisst, etwas zu berichten, unterschlägt es
mit Absicht. Er hat sein eigenes Verständnis von Recht, eher das von
Moral, seiner eigenen Moral. Thirza lernt die Realität kennen.
Familiengericht ist nicht Thirzas Sache, keine Kammer, die sie länger
verfolgen will, sie hat genug zu tun mit ihrer eigenen verzwickten
Familie.
»Die Betreute selbst saß in der Mitte ihres Dreißig-Quadratmeter-Salons
zwischen kahlen Wänden. Am Kopfende des vergitterten Bettes hing ein
handgeschriebenes Schild: ›Vorsicht! Kratzt und beißt!‹ Zeugen zufolge
war sie früher eine geizige Giftnudel gewesen, die ihre Dienstboten
schikanierte. Ein Schlaganfall hatte ihr die Sprache geraubt.«
Ein Abstecher ins Vormundschaftsreferat, Gedanken zurück an eine
grausige Zeit. Der Anfänger muss dienen als Staatsanwalt, der Diener
des Staates, wir erleben Thirza in München wohnend, es folgen:
Zivilrichterin am Amtsgericht, Beisitzerin am Landgericht in einer
Zivilkammer im Justizpalast, Familienrichterin am Amtsgericht,
Oberregierungsrätin im Justizministerium und schließlich Vorsitzende
Richterin am Landgericht in einer Zivilkammer, zurück im Justizpalast.
Privat liest Thirza lieber Liebesromane, statt Schriftsätze, aber mit der
Liebe hat sie nicht viel Glück. Spät trifft sie auf Max Girstl, ihre große
Liebe, mit dem sie glücklich ist, der leider zu früh stirbt. Die
Einundsechzigjährige erzählt dem Leser ihren Lebensweg.
»Das ist also unsere Gerechtigkeitsfabrik: am Ende hoher, höhlenartiger
Zimmer sitzen Richter wie Grottenolme auf Papierbergen, jeder für sich.
Nach drei Wochen Aktenwühlerei fragte Thirza Frau Meindl nach den
offenen Verfahren der beiden Kollegen und erhielt die Antwort:
hundertdreißig und hundertfünfundvierzig.«
Als Anfängerin lernt sie verschiedene Richter kennen, die kurz und
bündigen, die lange ausufernden Frager, Richter, die exzellent
formulieren, welche die immer ein Urteil fällen, andere, die den Vergleich
suchen. Wer vergleicht, der muss nicht urteilen, kann auch nicht
angefochten werden. Der Leser lernt zusammen mit Thirza die
verschiedenen Typen kennen, lernt zu verstehen, wie Richter denken,
agieren. Exemplarisch an vielen Beispielen erklärt sie Recht und Moral.
Nehmen wir den Mann, der gegen einen Autohersteller klagt, weil ihm
der Motor verreckte, kurz nach Ablauf der Garantie. Der Hersteller
bietet 3.000, wohlweislich, weil die Bauserie häufig genau diesen Fehler
aufweist. Der Klagende will 6.000 oder einen Ersatzmotor, wegen des
Fehlers. Nach Ablauf der Garantie muss der Hersteller nicht
geradestehen, so würde ein Urteil lauten. Der Kläger sieht sich im Recht:
Ein Fehler in der Bauserie. Doch Thirza versucht es mit einem Vergleich,
dem Hersteller ein wenig mehr herauszulocken. Mehr kann sie für den
Kläger nicht tun, ihm zusätzlich erklären, welche Kosten auf ihn
zukommen, wenn er weiter klagt, wo er doch schon die 3.000 nicht hat,
die Reparatur zu zahlen.
»Bei uns gehen die Regalhalter kaputt, und die Regale stürzen ab. Es
braucht ein halbes Jahr, bis ein Handwerker kommt. Wie können wir die
Würde des Gerichts vertreten, wenn uns die Verwaltung so würdelos
behandelt?«
Amt und Würde, die Robe, Säle, die Angeklagte in Angst versetzen,
Demut, Ehrfurcht. So würdig geht es in den Amtsstuben dann doch nicht
zu: Aktenberge, Überlastung, hoher Krankheitsstand, zu wenig Personal,
unwürdige Büros. In diesem Roman geht hier aber auch um politischen
und persönlichen Missbrauchs des Gesetzes, um Intrigen, um Politiker die
versuchen Einflüsse geltend zu machen, um die Individualität des
Richters, um seine Unabhängigkeit, um seine Abhängigkeit von Kollegen
und System. »Wie geht die Justiz mit Mächtigen um, die das Recht
beugen?«, fragt Thirza die Kollegen. Thirza mag Thenner, den
Perfektionisten, lernt viel von ihm, von Blank lernt sie, zu vergleichen.
»›Da sind Sie auf seine Fassade hereingefallen. Sie idealisieren ihn so
sehr, dass Sie keinen Begriff von ihm haben.‹
›Was haben denn Sie für einen Begriff?‹
›Blank überlegte, legte die Stirn in Falten, lächelte kurz. ›Korrekt,
scharfsinnig, diffus, kühl, nicht überheblich, gut mit Männern. Nicht gut
mit Frauen.«
Für diesen Roman sollte man Interesse für Juristerei mitbringen, denn
wir begegnen einer Fülle von Fällen in diesem Buch. Manchmal nur kurz
über einen Absatz, dann etwas länger, nie über Seiten. Aber Fall folgt
auf Fall. Das Wunderbare an diesem Roman ist der Wortwitz, es sind die
Bilder, die sprachliche Perfektion. Ein dicker Rechtsanwalt begegnet
Thirza auf dem Flur mit ausweichendem Blick. Der Anwalt als Untertan
des Richters. Der Richter, der ihr gleich danach begegnet, hat einen
aufrechten Gang, schaut ihr ins Gesicht. Hier begegnen sich zwei auf
Augenhöhe. Wundervolle Bilder und Formulierungen, ein Thema, das
literarisch nicht einfach zu fassen ist, Petra Morsbach ist es gelungen.
»Und was ist Gerechtigkeit? Natürlich fühlte sie jeder irgendwie. Der
Begriff hat dieselbe elementare Kraft wie Seele, Gewissen, Liebe, die
ebenfalls keiner erklären kann. Weil die Gerechtigkeit aber von
besonderer gesellschaftlicher Bedeutung ist, muss man sie
rationalisieren und organisieren. Der Bauch findet, der Geist begründet;
die ganze Wissenschaft ist so entstanden.«
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