Autorin
Sabine Ibing
»Wenn wir die Unabhängigkeit haben, regeln wir alles unter uns. Die
Arbeiter sollen ein besseres Leben haben? Perfekt. Sie kriegen es. Wer
will das verhindern, wenn uns keiner von außerhalb mehr regiert? Das ist
dann Euskera-Angelegenheit. Und genau dasselbe, wenn jeder
Christenmensch hier Euskera spricht; dann gibt es dazu gar nichts mehr
zu sagen«
Ein grandioser Bestseller aus Spanien, eindringlich geschrieben. Zwei
Familien in Freundschaft, später in bitterer Feindschaft. Schuld ist die
ETA. In der einen Familie ein Terrorist, oder ist er ein baskischer Held?, in
der anderen Familie der baskische Vater, ein Unternehmer, der nicht
genug Schutzgeld an die Untergrundbewegung bezahlt, sie nicht
unterstützt, tot, ermordet … Bist du kein Baske, bist du mein Feind.
Sprichst du kein Baskisch, bist du einer von denen, gehörst nicht zu uns
… Wer die Bewegung nicht unterstützt, ist ein Feind.
Erst im Jahr 2011 legte die Euskadi Ta Askatasuna, die ETA (baskisch für
Baskenland und Freiheit) die Waffen nieder, ist die älteste noch aktive
terroristische Untergrundgruppe Europas, eine marxistisch-leninistische,
separatistische baskisch-nationalistische. Erst in diesem Monat hat sie
sich offiziell aufgelöst, sich für sich für alle Taten entschuldigt, in
Gedenken an die 864 Todesopfer! 1959 wurde die ETA als
Widerstandsbewegung gegen die Franco-Regierung gegründet. Seit 1076
steht das Baskenland unter spanischer Regierung, die eigentümliche
Sprache des Baskenlands, Euskara, von der niemand so recht weiß
woher sie stammt, sie ist mit keiner anderen bekannten Sprache
genetisch verwandt, hat sich bis heute gehalten.
Aber in diesem Roman ist das Thema nicht unbedingt die ETA, sondern sie
steht nur Pate für indoktrinierten Fanatismus, für Hass und Gewalt
zwischen Ethnien, die Familien zerstört: Sinnloses Handeln, Terrorismus,
der Tod von Unschuldiger, ein Thema, das uns heute wieder umtreibt,
leider. Aber der Roman steht auch für Vergebung. Das Buch beginnt mit
Bittori, die an dem Tag, an dem die ETA den Waffenstillstand mit dem
spanischen Staat verkündet, das Grab ihres Mannes Txato besucht, der
vor über zwanzig Jahren von ETA-Terroristen erschossen wurde. In
Zwiesprache entschließt sie sich, in ihr Dorf zurückzukehren, in ihr Haus.
Und nun wird das Opfer zum Täter erklärt, denn so verstehen es die
Dorfbewohner. Die da soll gehen, die da belästigt uns mit ihrer
Anwesenheit, will und ein schlechtes Gewissen machen … Nachbarin
Miren wird wütend. Die Hexe soll gehen.
Miren und Bittori waren früher befreundet, ihre Männer waren beste
Freunde, beide Trainingspartner im Radsportverein. Taxo, ein
Fuhrunternehmer, hatte ein gutes Herz. Die Nachbarskinder, bitterarm,
wurden oft von ihm beschenkt, mal ein Eis, mal eine Haarspange oder
Bonbons, kaufte er etwas für seine Kinder, kamen auch die Kinder vom
besten Freund nie zu kurz, man teilt im Leben. Bittori möchte Antworten
erhalten. Warum wurde ihr Ehemann Txato erschossen, ein Baske, ein
guter Mensch? Zu seiner Beerdigung in San Sebastián kommen zwei
Trauergäste, die Familie hat Angst, ihn im Dorf zu beerdigen, Angst, dass
das Grab beschädigt wird. Die Opfer werden zu Schuldigen
gebrandmarkt. Bittori gibt nicht nach, sie will niemanden anklagen, nur
Antworten erhalten. Der größte Teil des Romans besteht aus Rückblicken.
Zwei Familien, Freundschaft vor dem Anschlag, nach dem Anschlag in
bittere Feindschaft. Aber auch innerhalb dieser Familien herrscht
Feindschaft und Unruhe. Eine Heirat mit dem Falschen, dem verhassten
Spanier, Homosexualität, Terrorismus, nicht jeder ergibt sich dem Hass,
mancher wendet sich von der Familie ab. Ein erschossener Vater, ein
politischer Mord, wie gehen die Kinder damit um? Jeder sucht seinen
Weg. Kann man verzeihen?
»›Frage ihn das für mich!‹, bittet sie Joxian, ›Frage deinen Sohn das
nächste Mal, wenn du ihn besuchst, ob er es war, der geschossen hat?
Ich muss es wissen, bald, ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich werde
ihn auch nicht verraten. Und sag ihm, wenn er mich um Verzeihung bittet,
vergebe ich ihm‹«
Joxe Mari, der Nachbarssohn, genau jener, dem Txato immer Eis kaufte,
hat sich der ETA angeschlossen, wird in Frankreich zum Kampf
ausgebildet und genau dieser Joxe Mari, muss Txato ausspionieren,
herausfinden, wie man ihn am besten erwischt, den Kapitalisten, der die
Schutzgelderpressung ignoriert. Joxe Mari, der Terrorist, wird später
geschnappt, sitzt heute im Gefängnis, ist für lange Zeit weggesperrt.
Seine Schwester Arantxa, nach einem Schlaganfall gelähmt, versucht die
störrische Mutter und den verbohrten Bruder, zur Vernunft zu bringen.
Aber für die gibt es nur Euskadi Ta Askatasuna! Der Autor springt
zwischen den Zeiten hin und her, auch zwischen den Protagonisten.
Immer wieder geht er zurück ins Jetzt. So verbindet er die alte Zeit mit
jetzigen, zeigt die Brüche, die kleinen Veränderungen.
Anhand dieser zwei Familien zeigt Fernando Aramburu, wozu es führt,
wenn man sich in ethnischem, religiösem oder politischem Hass
gegenübersteht: Zerstörte Freundschaft, entzweite Familien, Wut,
Trauer, Tod. Er geht hinein in seine Figuren. Eine Dorfgemeinschaft
benötigt Zusammenhalt, Gemeinschaft. Hass auf eine Gruppe innerhalb
der Sippe spaltet und zerstört die Substanz dieser Gesellschaft. Wir sind
die Guten, die anderen die Bösen. Ein Buch, das uns nicht über die ETA
aufklären will, hier gibt es nichts aufzuklären. Die ETA ist eine
Terrororganisation, mehr ist dazu nicht zu sagen. Fernando Aramburu
warnt vor Fanatismus jeglicher Art und er gibt Hoffnung auf
Verständigung und Vergebung, nicht für Absolution. Der Roman wurde in
Spanien mit den renommierten Preisen »Premio Nacional de Narritiva«
und »Premio de la Crítica« ausgezeichnet. Er selbst sagte in einem
Interview: »Solange du für Kinder schreibst, lassen sie dich in Ruhe. Aber
wehe, du machst dieses Land zum Thema, mein Junge. Solltest du jemals
für Erwachsene schreiben, sieh zu, dass du die Handlung in weite Ferne
von Euskadi verlegst. Nach Afrika oder Amerika, wie andere das tun.«
Aber die Zeit scheint im Baskenland reif zu sein, sich nicht in der Ecke
schämen zu müssen, sobald warnende Worte ausgesprochen werden.
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Rezension
Patria
von Fernando Aramburu
Gesprochen von: Eva Mattes
Gekürztes Hörbuch, Spieldauer: 16 Std. 23 Min.