Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Unterleuten
von Juli Zeh
"Zugezogene begriffen nicht, dass der Weltuntergang hier bereits
stattgefunden hatte. Mehrmals."
Ein kleines Dorf in Brandenburg namens Unterleuten, Dörfler mit
Vergangenheit der DDR, angekommen in der BRD, zugezogene Westler,
Investoren, EU-Förderwahnsinn, Vogelschützer, eine Windparkanlage, die
die Finanzen des Dorfs retten könnte, Seilschaften, Feindschaften,
Tricksereien, ein nicht ganz geklärter Todesfall aus 1991, Landflucht, jede
Menge Ehekrisen, Geschlechter- und Generationenkonflikte, schrullige
Dorfmenschen, Städter, die mit rosaroter Brille die Natur betrachten. So
könnte man in Kurzform den Inhalt der Geschichte beschreiben, Stadt-
Wessi trifft auf Ureinwohner-Ost.
Unterleuten ist pleite, aber es besteht die Möglichkeit das Dorf zu retten,
indem man mit Windkraft Steuereinnahmen erzielen könnte. Es entsteht
ein Streit um den Bau. Die einen sind dafür, die anderen wollen die Natur
retten. Alte Seilschaften werden ausgegraben, neue geschlossen. Uralte
Freundschaften und Feindschaften, die über die Jahre hochgehalten
wurden, werden benutzt. Anfangs meint der Leser, die eine Gruppe
kämpft gegen die andere und eine von beiden wird gewinnen. Aber dieser
subtile Roman geht ins Detail, in die Tiefe der einzelnen Protagonisten.
Irgendwann ist dem Betrachter klar, es gibt keine Gruppen, hier kämpft
jeder gegen jeden, für sein kleines Universum, egoistisch, für Macht oder
Geld. Es wird getrickst und gelogen, alte Wunden platzen auf, Männer
prügeln sich.
Es gibt den eingesessenen Kron, ein alter Kommunist, der zur Solidarität
gegen den Windpark aufruft, Kron, der Macht ausspielt, ein Choleriker,
der gern im Mittelpunkt steht, mit Enkelin Krönchen, die schon jetzt im
Kindesalter die fiesen Charakterzüge des Opas zeigt. Sein Erzfeind
Gombrowski will den Windpark, um Arbeitsplätze zu erhalten. Gombrowski,
der damals die LPG leitete, diese nach der Wende in die Ökologica GmbH
umwandelte, ein machtbesessener Typ, dessen Vorväter als
Großgrundbesitzer die Ländereien besaßen. Arne Seidel, der
Bürgermeister hat nur das Dorf im Sinn, der Diplomat. Seine verstorbene
Ehefrau hatte als IM der Stasi einst das gesamte Dorf abgehört, was Arne
erst nach ihrem Tod erfuhr.
Georg ist zugezogen, der Vogelschützer aus der Stadt, Gegner des
Windparks, weil dieser nicht in die Natur gehört, weil er nicht in seine Sicht
des Landlebens passt. Georg, ein verkrachter Akademiker, Aussteiger, der
im Dorfleben seine Erfüllung sucht, verheiratet mit einer ehemaligen
Studentin, die für ihr Kind hier ein Nest bauen möchte, zurück in die
Vergangenheit, einfach Mutti sein. Georg hat seine Dozentenstelle an der
UNI gekündigt und ist nun verantwortlich für 32 geschützte Kampfläufer-
Vögel. Nachbar Schaller, von Georg «das Tier» genannt, entwickelt sich zu
seiner persönlichen Kriegsstätte. Schaller betreibt eine illegale
Autowerkstatt und verbrennt täglich Gummireifen direkt auf der
Grundstücksgrenze. Die Polizei bleibt tatenlos.
Und dann haben wir die Pferdeflüsterin Linda Franzen, die für sich und ihr
Pferd ein Zuhause sucht und plant mit Pferde-Seminaren für Manager ihr
Geld zu verdienen. Sie erweist sich im Lauf der Geschichte als ziemlich
hinterlistig. Ein Investor, der für lau gleich nach der Wende ein großes
Stück Land ergatterte mischt auch noch mit.
Einen Hauptprotagonisten gibt es nicht. Schicksale von Einzelnen,
Inneneinsichten in die Protagonisten in ständigem Perspektivwechsel
stricken diese Geschichte zusammen. Die Kapitel sind im Wechsel jeweils
einer Hauptfigur zugeordnet. In gemächlichem Plauderton entwickelt sich
ein Dorfgewitter, Blitze zucken, bis es zum Ende an allen Seiten kracht. Die
Städter geben sich Illusionen hin. In einem Gespräch wird dem
Bürgermeister geraten, auf der wundervollen Erde mehr auf Bio zu
machen. Der weist darauf hin, dass nicht so viel wachse, außer dem Mais
für die Biogasanlage und dass die Gesprächspartnerin bestimmt nicht
wissen möchte, was man nach der Wende unter der Erde alles vergraben
wurde … Obst vergammelt an Bäumen und darunter, während die Dörfler
im Supermarkt einkaufen. Die Wirklichkeit von harter Landwirtschaft mit
lauem Einkommen trifft auf rosa Brillen von Berlinern.
«Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane
Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino,
Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster
auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle
zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten.»
Die Autorin zeigt auf Kommunikationsstrukturen im Dorf: Stufe eins für
Zugezogene, Information, Stufe zwei, Fremde, die Vertrauen erlangen
können, tiefere Information. Stufe 3, die Eingesessenen, die
untereinander alles aushandeln, tiefe Information. Hier schuldet der eine
dem anderen etwas, schiebt ihm etwas zu, sieht weg oder tritt auch
nochmal drauf, um sich zu rächen.
«Wenn sich Datenschützer in der Zeitung wegen Überwachung im Internet
ereiferten, musste Kron regelmäßig lachen. Man musste nur ein
handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne
Mensch tatsächlich war.»
Egoismus auf allen Seiten. Jeder greift nach dem dicksten Tortenstück,
wobei auch große Geschütze aufgefahren werden und kein mieser Trick
ausgelassen wird. Menschen demaskieren sich. Die Figuren sind plakativ
überzeichnet. Aber das macht den Reiz aus, 600 Seiten des Dorflebens in
aller Intensität als Leser mitzuerleben und macht einen guten Schuss
Humor aus.
Die jüngeren Männer werden als Looser dargestellt, der mürrische
Vogelschützer, der es als Akademiker nicht geschafft hat, der langhaarige
Informatiker, der Spiele entwirft, sich nicht traut, sich selbstständig zu
machen, der den großen Wurf im Kopf hat, aber Angst vorm Scheitern hat.
Krons Tochter, Ärztin, verheiratet mit einem Schriftsteller, der nichts auf
das Papier bekommt. Die Frauen stehen letztendlich alle ihren Mann.
Die Sprache ist einfach, mit viel Symbolik bestückt, immer in gekonnt
erzählerischem Ton, keine literarische Meisterleistung. Ein gelungener
Gesellschaftsroman über Nachwirkungen des geteilten Deutschlands,
Dorfidylle, die keine ist, ein Sumpf mitten im Dorf, gemacht aus den
eigenen Unzulänglichkeiten der Einzelnen, Eigennutz und Hinterfotzigkeit,
ein voyeuristisches Vergnügen für den Leser. Willkommen auf dem Lande.
Manchmal stinkt es gewaltig.
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