Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Ich werde allmählich alt; ich kenne mich selbst nicht
mehr.«
Am Anfang steht die Leidenschaft. So beginnt der Autor in der
Ichperspektive den autobiografischen Roman mit dem Kennenlernen
des alten Mannes mit einer jungen Frau, der sexuellen Begierde, einer
heftigen Beziehung. Der alte Mann ist übrigens 48, am Ende des Buches
hat er kurz die 50 überschritten. Liest man seine Selbstbeschreibung, so
meinte man, man hätte es mit einem Mann über 80 zu tun. Fühlen sich
Männer in der Mitte des Lebens so verdammt uralt? Hier konnte ich dem
Autor nicht ganz folgen. Bald erfahren wir, seine Freundin, eine
Studentin, hat ihn für einen Jüngeren verlassen, alle Frauen haben den
Schriftsteller verlassen. Die Ehefrau, die Tochter und nun auch sie, seine
große Liebe. In 177 Seiten schildert der Autor sein Liebesleben an drei
Frauen. In »Wider die Kunst«, in dem Espedal über den Tod seiner Mutter
und den seiner Ex-Frau schreibt, ist er autobiografisch, und er schlägt
hier wieder zu, wie in vielen seiner Büchern: aus dem eigenen Leben
schöpfen.
«Schon früh stand mir vor Augen, dass ich nicht arbeiten wollte.»
Tomas Espedal erzählt von seiner Jugend in der Textilfabrik des Vaters,
von einer schrecklichen Arbeit, er hat die Aufgabe, die Maschinen ölen,
darunterzuliegen, verhedderte ölige Fäden herauszutrennen. Öl topft
ihm täglich ins Gesicht, schädigt seine Haut. Soll er bis ins Rentenalter
tagein, tagaus früh aufstehen, wie ein Hamster im Rad, sich täglich
quälen? Er entscheidet sich dagegen, wird Schriftsteller. In dieser Zeit
trifft er auf seine Jugendliebe, eine Verkäuferin, Verknalltheit, erste
zarte Annäherung, erster Sex. Er begegnet auch Agnete, die ihm schöne
Augen macht, was Tomas ignoriert. Immer wieder läuft er Agnete über
den Weg, es scheint, sie positioniert sich mit Absicht, zwinkert ihm zu,
verschwindet. Tomas hat mit seinem ersten Roman Erfolg. Irgendwann
springt er auf Agnete an, verliebt sich. Sie wohnt nun in Rom, hat einen
Freund, mit dem sie Schluss machen will, wenn Tomas ihr folgt. Aber
sofort! Tomas ringt mit sich, reist ihr erst zwei Monate später nach,
erhält eine Abfuhr. Zu spät. Sie hatte sofort gesagt! Er nimmt sich ein
Hotelzimmer, schleicht um ihr Haus herum. Zunächst bleibt sie
unnachgiebig, hält ihn an der langen Leine, bis sie sich erweichen lässt.
Kurz darauf geht es zu zweit nach Hause, in die kleine Wohnung von
Tomas, die Agnete in Beschlag nimmt, umräumt, möbliert, aufrüstet,
dass er sein Heim nicht wiedererkennt, sich nicht wohl fühlt. Tomas
mietet ein Arbeitszimmer. Auch dort findet er keine Ruhe. Agnete ist
auch hier präsent, stört ihn, räumt um, näht Gardinen …
»Unversehens waren wir früh in einer Art Urszene gelandet, sie schrie
und ich musste mich mit aller Kraft beherrschen, dass ich ihr nicht an die
Gurgel ging. Ich wollte sie nur noch erwürgen, diesen Schrei abwürgen,
aber es gelang mir, mich umzudrehen und wegzugehen, sie packte
meine Trainingsjacke; geh nicht, geh nicht weg von mir, wir waren wie
zwei Tiere, ich versuchte mich loszureißen, aber sie hielt mich fest, und
wir zerrten und rissen aneinander.«
Schon zu diesem Zeitpunkt wird klar, welch narzisstische Persönlichkeit
in Agnete steckt. Alles hat nach ihrem Wunsch zu laufen, wenn es ihr
passt, wird umgezogen. Bekommt sie nicht, was sie will, rastet sie aus,
schreit, schmeißt Geschirr nach Tomas, ihm auf den Kopf, es gibt
regelrechte Raufereien zwischen den beiden. Agnete ist schwanger, ein
Haus muss her, abseits gelegen. Tomas ist genervt, aber folgsam. Trotz
Steißlage besteht die eigensinnige Agnete auf eine Hausgeburt. Das Kind
ist geboren, Amalie, und der Vater hat zu erziehen, während Agnete
macht, was ihr gefällt. Der politischen Agnete fällt es ein, nach
Nicaragua zu ziehen, sie will im Friedenscorps eine Schauspielergruppe
aufbauen. Tomas fügt sich widerwillig.
»Ich war allein mit meiner Tochter im Haus. Sie wachte früh auf, meist um
fünf Uhr morgens, es war dunkel; wir saßen in der Küche und warteten
auf den Morgen. Wir saßen in der Küche und warteten darauf, dass die
Nacht ein Ende hatte, dass das Licht kam, dass der Morgen anbrach.«
Tomas passt auf das Kind auf, führt den Haushalt, die Welt ist gefährlich
und wie immer bekommt er keine Zeile aufs Papier. Als die Bedrohung
durch das Militär immer größer wird, beschließt Tomas, mit seiner
Tochter das Land zu verlassen. Agnete ist dagegen, will bleiben. Sie
kommt aber doch mit, nicht wegen der Famlie, sie hat nach einem Vorfall
Angst um ihr Leben. Hier ist die Beziehung bereits kaputt. Aber die
beiden heiraten. Agnete macht weiterhin das, was sie will, rücksichtslos.
Kurz darauf trennen sie sich die beiden, Agnete hat einen Freund, ist
von ihm schwanger, kauft ein Haus, lebt mit den Kindern. Tomas kehrt zu
den Eltern zurück, arbeitet beim Vater in der Fabrik, schreibt. Kurz
darauf verstirbt Agnete an Krebs, Tomas nimmt die beiden Mädchen zu
sich, bzw. zieht in Agnetes Haus. Nach dem Tod seiner Eltern kehren sie
zurück in die Stadt.
»Ich war ein feiger, fetter, Autor, der kein Wort mehr schrieb, der alles
tat, was er konnte, um Streit und Konfrontation aus dem Weg zu gehen,
der alle Kräfte einsetzte, um auf seine Tochter aufzupassen und sie
aufzuziehen, aber was war das für ein Vater, an dem sie festhing; ein
dicker, ängstlicher, klebriger Mann, der tat, was er musste, und nicht
mehr.«
Und nun kommen wir zur letzten der drei Beziehungen. Janne lernte
Espedal kennen, als er 48 Jahre alt ist, sie halb so alt wie er. Sie
verlieben sich auf einer Silvesterparty, leben ein intensives
abgeschottetes Leben, er beschreibt es wie in einen Kokon. In einer
Szene liegen sie im Bett und sie lesen gemeinsam einen Band der
Autobiografie Karl Ove Knausgards, den Espedal persönlich kennt. Sie
sind sprachlos über Offenheit von Knausgard. Tomas Espedals Bücher
sind genauso offen, lassen in sein Leben blicken, schonungslos. Eines
Tages trennt sich Janne von Tomas. Ihre Beziehung sei »wider die
Natur«, ihr dürstet es nach etwas Jüngerem. Wieder hat ihn eine Frau
verlassen. Ein älterer Intellektueller, der sich steinalt fühlt, unattraktiv,
jammert, dass die Liebe seines Lebens ihn verlassen hat. Sie hätte seine
Tochter sein können. Für sie war er das Spielzeug, sie hat ihn benutzt,
führte als Studentin ein gutes Leben bei ihm.
Ich persönlich bin immer wieder erstaunt, wie es Männern gelingt, sich
selbst zu belügen, zu glauben, eine 30 Jahre jüngere Frau würde mit
ihnen eine Beziehung eingehen, um ihrer selbst willen. Denkt mal nach,
ihr Männer in der Midlifecrisis, würdet ihr euch eine Achtzigjährige
angeln, ihrer selbst willen?
»Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue
Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen,
eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du
besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du
lebst, wirst du dich nie von dir selber trennen können.«
Die Ehrlichkeit des Scheiterns berührt. Agnete hat mich zeitweise wütend
gemacht, noch mehr die Unterwürfigkeit von Tomas aus Affenliebe, der
seine Würde verliert. Bei Janne hat Espedal sich ähnlich verhalten,
glücklicherweise neigte sie anscheinend nicht zur Egozentrik. Stets steht
Espedal vor zerbrochenen Scherben, versteht das Ende erst, wenn Frau
die Koffer in der Hand hat. Feine Antennen für Vorboten fehlen ihm.
Vielleicht nicht, eher trägt er Scheuklappen davor. Und jedes Mal
jammert er in fast unerträglicher Weise. Er jammert über das Altern,
dabei ist er noch lange nicht alt. Naiv glaubte er, mit Janne den Rest des
Lebens zu verbringen, ist nun völlig verzweifelt in seiner Einsamkeit.
Reduziert, vielleicht darum so ausdrucksvoll, ein Buch über das Leben,
die Liebe, über falsche Entscheidungen, über das Scheitern und
Aufstehen, über das, was die Liebe macht, wenn man sich für den / die
Falsche/n entscheidet. Eine schonungslose Öffnung des Autors vor sich
selbst und damit für das Publikum.
»Das Buch über das Glück kann ohnehin nicht besonders dick werden.
Nicht dick und auch nicht besonders tief, die glückliche Sprache ist
einfach und banal, es gibt keine Tiefe im Glück, oder etwa doch?«
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Wider die Natur
von Tomas Espedal