Autorin
Sabine Ibing
»Ich aß mich satt und räumte dann den Körper für die übrigen Seelen, die
ihrerseits nacheinander Mrs. Winslow begrüßten.«
Was Sie immer mal über MPS, Multiple Persönlichkeitsstörung, wissen
wollten … Eine Psychotherapeutin, die mit MPS-Patienten arbeitet, hat mir
diesen Roman empfohlen. Wie es sich wirklich im Kopf eines Menschen mit
MPS aussieht, werden wir nie ganz nachfühlen können, aber dieser
spannende Roman gibt eine beeindruckende Einsicht. In der Regel
entsteht diese Störung durch frühste Gewalt an Kindern, meist mit
sexuellem Hintergrund. Kinder, die missbraucht werden, können das Leid
nicht ertragen, »Klinken sich aus ihrer Seele aus« und lassen sozusagen
jemand anderen die Erlebnisse durchleben, die eigentliche Seele ist in
Scherben zersprungen. So entstehen im Laufe der Zeit immer mehr
Persönlichkeiten im Körper dieses Menschen.
Wir lernen Andrew Gage kennen, der seine Seelen halbwegs im Griff hat,
bereits längere Zeit in Therapie ist. Er hat in seinem Kopf ein Haus
konstruiert, in dem die Familie wohnt, nette Typen und ein paar ätzende.
Er hat es im Griff, jedem ein wenig Körperzeit zu geben, »draußen« zu
sein, immer von ihm gesteuert, so dass er ein geordnetes Leben führen
kann. Mit harter Hand passt er auf, dass sich alle Bewohner an die
Hausregeln halten. Black-outs kommen bei ihm eigentlich nicht vor.
Er arbeitet in einer kleinen Computerfirma, seine Chefin weiß Bescheid,
zeigt Verständnis dafür, wenn er sich hin und wieder merkwürdig
verhält. Eines Tages fängt Penny in der Firma an, die sich auch Mouse
nennt. Andrew merkt schnell, sie ist eine MPS, hat selbst davon keine
Ahnung. Penny passiert es schon mal, dass sie in einer Wohnung
aufwacht, die sie nicht kennt, neben einem Typ, an den sie sich nicht
erinnert, in Klamotten, die nicht ihre sind, so meint sie. Das Portmonee ist
leer. Sie schmeckt Tabak im Mund, obwohl sie nicht raucht. Blackouts sind
für sie normal, manchmal fehlt ihr eine Stunde, manchmal ein ganzer
Tag.
Andrew Gage und seine Persönlichkeiten erklären Penny und ihren
Seelen, dass sie sich helfen lassen können. Nach anfänglichem Wehren
lässt (lassen) sie sich darauf ein. Andrew hilft Penny. Und dann hat
Andrew einen Absturz, eine unbekannte Persönlichkeit übernimmt, er
reist überstürzt ab, Penny möchte sich revanchieren, folgt ihm, ein
Roadmovie beginnt im dritten Abschnitt.
Wir erfahren viel über die Lebensgeschichte von Andrew und Penny,
über ihre grausame Kindheit, die ja die Persönlichkeitsspaltung auslöste.
Andrew hat sich seiner psychologischen Störung bereits gestellt, seinen
Kopf »geordnet«. Er hat dort ein Haus gebaut, indem jede Persönlichkeit
sein Zimmer hat, umgeben von einem See, Wald und einer Wüste (in die
man eine Seele für begrenzte Zeit schicken kann, die sich
danebenbenimmt), Andrew weist seinen Personen Körperzeit zu, völlig
kontrolliert, was nicht immer ganz gelingt. Bei Penny ist noch alles
durcheinander, sie muss erst begreifen, was mit ihr los ist.
»Meine Gelassenheit hielt rund zwanzig Stunden vor, bis
Sonntagnachmittag, als ich Warren Lodge tötete.«
Wer hier einen eher wissenschaftlich orientierten Roman erwartet, liegt
falsch, aber auch richtig. Durch die handelnden Figuren erlebt der
Leser, was in einer multiplen Persönlichkeit vorgeht, wie sie sich fühlt, wie
verschieden die Persönlichkeiten sind. Manche sind liebevoll, andere
aggressiv (die, die sich in der Kindheit zur Wehr setzten), andere sind
devot oder aufreizend, manche sind nett, einige sind in der Kindheit
verblieben. Mit Veränderung der Persönlichkeit wechselt die Stimme, die
Körperhaltung, die Mimik, die Gestik, die Sprache, ein wirklich anderer
Mensch tritt hervor. Mit großer Empathie nimmt sich Matt Ruff dem
Thema Multiple Persönlichkeitsstörung an. Penny muss sich finden und
Andy hat einen derben Rückschlag, weil er sich bisher weigerte, sich dem
letzten Thema zu stellen. Beide gehen zurück in die Kindheit. Es ist
schrecklich, zu lesen, was passiert ist. Aber auch hier schafft es Matt
Ruff es, uns als Leser zu beschützen, die schlimmsten körperlichen
Ereignisse werden nicht ins Detail geschildert. Die psychologische
Zerstörung der Kinder durch die jeweilige Mutter, die bis ins
Erwachsenenalter reicht, ist grausam.
Andrew hat in seinem Haus im Kopf alles geregelt, er ist der Chef. Na ja,
er glaubt es wenigstens. Er darf keinen Tropfen Alkohol trinken, denn
dann kann alles schieflaufen. Und er lässt sich neuerdings mal
überreden, nur einen winzigen Schluck …
Penny hat ihre Persönlichkeiten noch nicht im Griff, sie kann sich von
einem Moment auf den anderen von Mouse, der schüchternen,
kindlichen Frau in die fluchende Maledicta oder die aggressive Malefica
(Zwillingsschwestern), oder in die schnurrende, Loins verwandeln, die
gleich dem nächsten Mann an den Hals springt. Eben redest du noch mit
dem netten Mädchen und schon droht sie dir Schläge an oder sitzt auf
deinem Schoß. Maledicta und Malefica beschützen Penny, holen sie aus
brenzligen Situationen, an denen vielleicht sogar Loins schuld ist. Die
Zwillinge rauchen und saufen, können Auto fahren, haben ein Rotzmaul
mit entsprechender Körperhaltung. Das ist so gar nicht Mouse, die ganz
schnell den Kopf einzieht, wenn sie bedrängt wird. Nebenbei, im
Italienischen ist fica, die Fotze, mal ist schlecht, malefica heißt schelmisch
auf latein, maledicta heißt im lateinischen Missbrauch. Loin bedeutet im
Französischen weit. Und Loins, die ständig auf der Suche nach Sex ist, ist
Penny am weitesten entfernt.
Psychologisch gut verpackt stellt Matt Ruff das Dilemma dieser Störung
dar, die Ursprünge, die dem Leser den Magen umdrehen lassen, man
versteht, weshalb die Persönlichkeiten so verschieden sind und kann sich
sogar für Kratzbürsten erwärmen. Im Original heißt der Titel »Set this
house in order«, was dem Inhalt wesentlich nähersteht als der deutsche
Titel. Neben allen »wissenschaftlichen« Erklärungen ist Matt Ruff
natürlich ein genialer Autor, der zu schreiben weiß. Ein interessanter,
wechselhafter Plot, spannend, der auf ein Roadmovie im letzten Drittel
zurast. Und natürlich eignen sich multiple Geschichten zu Lachern,
skurrilen Momenten, bizarren Protagonisten, zu einer atemlosen Story.
Andy+++ und Penny+++, na ja, eben ganz viele Hauptprotagonisten, die in
ihrer gesamten Schattierung auffahren. Natürlich gibt es für den Leser
viel zu lachen. Aber die Situationen wirken nie lächerlich, schon gar nicht
die Protagonisten. Und es gibt harte Momente beim Lesen. Man sitzt in
den Figuren drinnen und leidet mit ihnen, so soll es sein. Nebenbei nimmt
man vieles aus dem Roman mit, Entstehung der Störung, Verständnis,
Mitgefühl und auch Zuversicht. Durch lange harte Arbeit an sich selbst,
mithilfe von Therapeuten, kann man die Sache halbwegs in Griff
bekommen, halbwegs, zumindest ein wenig geordnet, auch wenn das
lange dauert. Und viele Wege führen nach Rom.
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Rezension
Ich und die anderen
von Matt Ruff
Gesprochen von: Jens Wawrczeck
Spieldauer: 22 Std. 39 Min.
ungekürztes Hörbuch