Autorin
Sabine Ibing
Im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts tauchen an öffentlichen
Plätzen nach und nach mehrere Frauenleichen auf, deren innere
Organe entfernt wurden. Danach hat sie der Täter mit Stroh
ausgestopft, mit Konservierungsflüssigkeit ‚haltbar‘ gemacht und wie
Puppen hergerichtet. Frauen, die (vorerst) niemand vermisst,
missbraucht als Spielzeug, ebenso namen- wie willenlose Opfer
menschenverachtender Manipulationen. Im weiteren Verlauf wird sich
zeigen, dass diese Mordopfer exemplarisch stehen für ein auf die
Spitze getriebenes Frauenbild dieser Zeit. Und so viel sei bereits jetzt
verraten: das ist es, was das Buch tatsächlich spannend macht.
Die Forensik ist zu dieser Zeit ein relativ junger Zweig der
medizinischen Wissenschaft, ja die Kriminalistik steckt insgesamt noch
in den Kinderschuhen – der Augenschein (getrübt von so manchem
wohlfeilen Vorurteil) gilt mehr als die naturwissenschaftliche
Beweisführung. So hat der Gerichtsarzt Hektor von Thorwald bei
seinen Ermittlungen keinen leichten Stand. Neben den grausam
zugerichteten Mordopfern obduziert er wie besessen quasi jede
Leiche, deren er habhaft werden kann – nicht aus einer perversen
Neigung heraus, sondern um sein Wissen in puncto „nicht natürlichen
Todesfällen“ zu erweitern. Bei seiner Arbeit im Leichenkeller wird er
von einem ebenso eifersüchtigen wie devoten Faktotum namens Max
unterstützt. Kommissar Tiegler, der die polizeiliche Mordermittlung
vorantreibt, sitzt allzu oft zwischen allen politischen Stühlen und ist
nur eine beschränkte Hilfe bei der Fahndung.
Aber wer wird auch so naiv sein, nach der Wahrheit zu fragen? Oder
gar von der Polizei zu verlangen den Mörder zu finden? Geht es doch
vielmehr darum, der Öffentlichkeit den gesellschaftlich „passenden“
Täter zu präsentieren und so ganz nebenbei auch politisch dem
Gegner eins auszuwischen – stehen doch Wahlen vor der Tür (dieses
neumodische Demokratie-Zeugs, das sowieso nur Unruhe und Aufruhr
mit sich bringt). So folgt der Plot dieses Krimis dem altbekannten
„Whodunit-Prinzip“ und lockt den geneigten Leser auf einige falsche
Fährten. Ohne zu spoilern, kann ich verraten, dass an dem
Geständnis auf S. 256 nicht viel dran sein kann – hat der Roman doch
318 Seiten. Und auch der notorische Hauptverdächtige, der einzige,
der logischerweise in Frage käme und noch dazu ein
ausgesprochenes Ekel ist, fällt aus – das wäre ja zu einfach.
Das funktioniert gut, liest sich flott und man verzeiht der Autorin
sogar, dass die Auflösung nicht besonders originell ist, denn die
Stärken des Romans liegen eindeutig auf Seiten der gut
recherchierten Milieuschilderung des Gründerzeit-Berlins, das sich
gerade zur Metropole mausert. Adel, Bürgertum und Proletariat leben
zwar offiziell in unterschiedlichen Universen, aber ihre Umlaufbahnen
nähern sich aneinander an, ja überschneiden sich teilweise – wenn
zum Beispiel der verarmte Graf aus purem Kalkül eine Bürgertochter
ehelicht, die der neureiche Vater auf dem Heiratsmarkt an den
Meistbietenden verschachert. Gesellschaftlicher Aufstieg gegen bare
Münze, das ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Mit Neigung oder gar
Liebe hat das gar nichts zu tun – für romantische Gefühle sind
Kitschromane zuständig, die von den Damen gierig konsumiert
werden – reiner Eskapismus aus einer Welt, die vor allem eins bietet:
nicht enden wollende Langeweile.
So fragt sich die junge Bürgerliche Cecile Blum wohl zu recht, was sie
noch vom Dasein erwarten kann, wenn die Hochzeit „der schönste Tag
im Leben einer Frau“ sein soll. Intelligenz und Neugier sind in ihrem
Universum jedenfalls keine attraktiven weiblichen Attribute und bei
dem, was der Zeitgeist verlangt – Brust, Bauch und Hintern, hat die
Natur Cecile eindeutig vernachlässigt, und so muss die junge Dame
mit Korsett, Reifrock und Tournüre so kräftig nachhelfen, dass das
Ergebnis dieser Figuroptimierung an Körperbehinderung grenzt. Aber
so nach und nach entledigt sie sich der beengenden Kleidungsstücke
und verlässt die gesellschaftlich vorgeschriebenen Trampelpfade.
Denn Cecile will Ärztin werden (sie hat gute Gründe, die ich hier aus
dramaturgischen Gründen verschweige). Damals war den Frauen
jedoch das Studium in Deutschland verboten (die offizielle Statistik
zum Frauenstudium in Deutschland beginnt erst im Jahr 1909).
Frisch und unglücklich verlobt, bricht Cecile aus und gelangt auf
Umwegen in den Leichenkeller des düsteren Gerichtsarztes Hektor
Thorwald. Von ihm erfährt sie, dass Frauen in Zürich Medizin
studieren dürfen. Danach bietet die Handlung einige Verwirrungen
und Schlenker – die beiden sind sich nicht darüber im Klaren, wen sie
da eigentlich vor sich haben. Ceciles weiblicher Blick, geschult in ganz
anderen Details als Thorwalds anatomisch-wissenschaftliche
Herangehensweise, erkennt jedoch Indizien, die gar nicht so
nebensächlich sind, wie sie zuerst erscheinen. So werden die beiden
bei den Ermittlungen allmählich zu Verbündeten.
Natürlich entspinnt sich zwischen Hektor und Cecile eine
Liebesgeschichte, bei der ich mich gefragt habe, ob sie wirklich
notwendig ist. Hier folgt die Autorin dem (vom Verlag vorgegebenen?)
Schreibprinzip, das sich an eine vorwiegend weibliche Leserschaft
richtet – ein Schuss Romantik muss eben sein. Ironischerweise wird
zwischen den Zeilen gegen diese Art des kalkulierten Liebesdramas
geätzt, wenn die weiblichen Hauptfiguren den Kitschroman „Melusine“
lesen. Ein Roman im Roman, der ebenso langweilig wie gesellschaftlich
korrekt ist.
Die Stärken der Story liegen ganz eindeutig bei den gut
recherchierten Milieuschilderungen. Man durchschreitet im Geiste den
Torbogen eines prächtigen Berliner Vorderhauses und durchquert bis
zu sieben Hinterhöfe, wo dichtgedrängt das menschliche Elend haust –
sich aber gleichzeitig auch die „Brutstätten“ der Sozialdemokratie
befinden, wo Solidarität, Bildungs- und Aufstiegshunger genauso ihren
Platz finden, wie erste zaghafte Emanzipationsversuche von Frauen.
Pia „die Proletarierin“ steht exemplarisch für diesen ebenso
pragmatischen wie selbstbewussten Frauentypus. Selbstverständlich
gerät sie in Schwierigkeiten ...
Die Zeitreise ist insgesamt gelungen, das alte Berlin wird mit allen
Sinnen erlebbar. Leider sind die Charaktere teilweise etwas zu
klischeehaft geraten. In einigen Rezensionen wurde kritisiert, dass die
Sprache zu umständlich und auf künstliche Weise an die des 19.
Jahrhunderts angelehnt sei. Eine gewisse Umständlichkeit und
Behäbigkeit ist durchaus vorhanden, was aber zum Sujet passt. Über
Geschmack lässt sich aber bekanntermaßen nicht streiten, da muss
sich jede*r ein eigenes Urteil machen. Auf jeden Fall wirken die im
Berliner Dialekt geschriebenen Passagen erfrischend (leider kommen
sie etwas zu kurz!).
Fazit: Lesenswert, vor allem vor dem historischen Hintergrund einer
sich im Umbruch befindenden Gesellschaft. Es wird klar, wie
erbärmlich kurz die Geschichte der Frauenrechte im
deutschsprachigen Raum ist.
Leider kann der Roman nicht ganz auf gängige (Romantik)Klischees
verzichten.
Ulrike Blatter
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