Autorin
Sabine Ibing
10 000 ZWANGSPROSTITUIERTE leben in Deutschland. Jana Koch-Krawczak
war eine von ihnen. Nun erzählt sie, wie sie die Gier und Gewalt der
Männer erlebte, ihr Leben rettete – und ihr Glück fand.
Die blauen Blumen auf ihren Armen trägt sie mit Stolz. Jana hat sie sich
unter ihre Haut stechen lassen, als sie endlich frei war. Als sie ihre Haut
gerettet hatte.
Hunderte Männer hatten diese Haut berührt. Nun sind da nur noch
blaue Blüten.
Jana Koch-Krawczak, so ihr Pseudonym, musste sich schon mit 15
Jahren an Männer verkaufen. Sie war als Teenager eine
Zwangsprostituierte. Eines jener Mädchen, von denen in Deutschland 10
000 leben, so schätzen es Frauenrechtler und Polizisten.
Wer die zierliche 37-Jährige heute in ihrem kleinen Zuhause irgendwo in
Süddeutschland besucht, dessen Wände sie gelb, rot und grün
gestrichen hat, den verblüfft ihr unverstelltes Lächeln. Sie serviert
Kuchen und zündet Kerzen an. Sehr gerade am Tisch sitzt eine Frau mit
Herzlichkeit im Blick. Alles um sie herum nimmt sie mit einer
Zugewandtheit wahr. Sie schaut aus dem Fenster auf Bäume und
Felder, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Jana wirkt, als lebe und
hole sie zeitversetzt all das nach, was sie einst verlor und versäumte.
Haben die Männer, die Jana damals berührten, sie je nach ihrer
Geschichte gefragt? „Nein, keiner“, sagt sie heute und schüttelt den
Kopf. Haben diese Männer sich dafür interessiert, woher sie kommt,
wieso da eine 15-Jährige neben ihnen liegt? „Nein, auch danach hat
mich keiner gefragt“, antwortet sie mit einem Lächeln, das verziehen
hat. Sie trägt einen kleinen Stein in der Farbe ihrer Augen über ihrem
rechten Mundwinkel. Wenn sie lächelt und die Spätsommersonne in ihr
Wohnzimmer flutet, blinkt der Stein.
Heute spürt sie sich wieder. Verwunden hat sie die Zeit, als diese
tausendfach Berührte nichts mehr fühlte. Der Schmerz ihrer Seele hatte
ihren Körper taub werden lassen. Und so ritzte sie sich einen Schmerz
in ihre Unterarme ein. Schon als Kind brachte sie sich die Wunden mit
Rasierklingen bei und flehte so um ein bisschen Aufmerksamkeit, die ihr
die Mutter immer versagte. Die Mutter trieb sie in die Prostitution.
Janas blaue Blumen verstecken nun die Narben ihrer Leidenszeit. So
eingraviert sind sie, dass die Tinte sämtliche Spuren vertuscht. Nur
wenn das Sonnenlicht auf ihre Unterarme fällt, sieht man die Schatten
der alten Zeit noch, wie sie sich erheben. Das Narbengewebe.
Nichts blieb ihr aus ihrem alten Leben in Polen, kein Gegenstand, nicht
einmal ein Koffer, als sie 1994 mit 16 Jahren nach Deutschland, nach
Stuttgart floh. Als sie hoffte, hier frei zu sein. Hier nicht mehr an
Zuhälter zu geraten, die sie förmlich einsperrten in ihren Bordellen, so
wie sie es zuvor in Polen, nahe Janas Heimat Danzig, getan hatten.
Deutschland hatte so verheißungsvoll gewirkt. „Ich wollte hier mein
Leben, meine Gesundheit und meine Seele retten.“ Und doch sollte sie
erst einmal genauso ausgeliefert sein wie in Polen, blieb in den Fängen
von Luden, die sich die weibliche „Ware“ gegenseitig zuschoben. In
Deutschland leben und verdienen die Menschenverkäufer und
Zuhälter in Zeiten der „Flatrate-Bordelle“ und „Geiz ist geil“-Puffs noch
besser an ihren Opfern als in Osteuropa. An Mädchen wie Jana. Mitten
in einem Land, in dem alles so sehr mit Recht und Ordnung zugeht. Nur
nicht, wenn es sich um Frauen handelt, die zum Sex gezwungen werden.
Deutschland leistet sich eine Grauzone. In keinem anderen Land
Europas boomt der Markt mit Mädchen aus Polen, aus Tschechien, aus
Rumänien derart. Sextouristen reisen von überall her nach
Deutschland. Nach Schätzungen der OSZE bringen Menschenhändler
jedes Jahr zwischen 120 000 und 500 000 Frauen von Osteuropa nach
Westeuropa und zwingen sie zur Prostitution.
Mit dem Mut zum Bekenntnis spricht und schreibt Jana Koch-Krawczak
jetzt über ihre Zeit, als sie sich verkaufen musste. Ihr Buch „Du
verreckst schon nicht!“ erscheint diese Woche im mvg Verlag. Mit ihm
will sie andere Frauen zum Ausstieg ermutigen. Künftig würde sie gern
für eine Organisation arbeiten, die Frauen und Mädchen einen Ausweg
zeigt: „Denn eines weiß ich: Niemand verkauft seinen Körper gern.“
Das Buch wird ihr Leben verändern. Noch ahnen ihre Bekannten und
Kollegen nichts von ihrer Vergangenheit. Die Nachbarn mögen sie
wegen ihrer Heiterkeit. Wenn Jana mit ihren beiden Hunden durch die
Gassen geht, trägt sie ihr Lächeln mit sich. Jana lebt in einem Dorf, das
von Hügeln und Wäldern umarmt daliegt. Durch das sich ein Fluss
schlängelt. Dessen Trauerlinde lange Schatten wirft. An dessen
Fachwerkfassaden die Zeit hängengeblieben scheint. Jana weidet sich
am Idyll und seufzt: „Ich liebe diese Normalität. Nach nichts hatte ich
mich mehr gesehnt als nach ihr.“
In ihrem Buch erinnert sie sich, wie ihre Eltern, beide Trinker, sie schon
als kleines Kind grausam misshandelten. Wie ihre Mutter sie erst in die
Jugendkriminalität, dann in die Prostitution zwang, um an ihr zu
verdienen. Wie sie versuchte, sich umzubringen. Wie sie die Sehnsucht
zu fliehen bis nach Deutschland trieb. In die Arme der Männer, die
vorgaben, die immer nur Schutzlose beschützen zu wollen. Die sie als
ihre Zuhälter ausbeuteten.
Jana Koch-Krawczak erinnert sich auch an die vielen anderen Männer.
Wie ignorant und doch fantasiebegabt ihre Freier waren: „Sie alle
glaubten, ich mache das, weil es mir Spaß macht.“ Dass in Bordellen
außer den Körpern bestenfalls Illusionen verkauft werden, wollte
keiner ihrer Kunden wahrhaben. „Wenn über jede Bewegung, jeden
Ablauf verhandelt wird, ist das doch kein Geschenk, dann ist das ein
Geschäft.“ In diesem Geschäft versteckte sie wenigstens einen Teil
ihres nackten Selbst unter einer Perücke.
Eine Art Tarnkappe, um sich nicht mit Haut und Haaren herzugeben.
Ihre echten Haare unter den schwarzen falschen trug sie damals kurz.
Ihre Mutter hatte sie abgeschnitten, um die Tochter zu erniedrigen. Mit
der Perücke vermochte sie die Männer zumindest millimeterweit auf
Abstand zu halten, genauso wie mit den Kondomen, sagt sie. Und auch
mit Alkohol und Drogen. Sie betäubten ihre Sinne, wenn sie sinnlich sein
sollte. „Am schlimmsten waren die Geschäftsleute, die mit anderen ins
Bordell kamen und feierten. Sie glaubten, sich alles kaufen zu können,
und hatten die höchsten Ansprüche. Und das bei großer Gefühlskälte.“
Jana versteckte sich oft in einem Winkel des Bordells, wenn sie kamen.
Es waren meist jene Typen, die, wenn sie allein zu ihr kamen, in sich
zusammensanken. „Manche von ihnen saßen weinend auf der
Bettkante.“ Sie weinten nicht, weil sie gerade ein minderjähriges
Mädchen ausgenutzt hatten, sondern sie beweinten sich selbst. Janas
Lächeln will wieder verstehen: „Sie zeigten nur Gefühle für sich.“
Diese Männer können sich mit einem Klick auf die Rotlicht-Web-Seiten,
mit einem Blick in die Anzeigen der Boulevardzeitungen unter
Hunderten osteuropäischer Mädchen ihre Stundenfrau erwählen. Sie
finden Dutzende „Sexy Swetlanas“ und „naturgeile Natallias“.
Etwa eine Million deutsche Männer kaufen Tag für Tag eine Frau. Das
neue Prostitutionsgesetz von 2002, das die Lage der Frauen verbessern
sollte, hat die Zwangsprostitution begünstigt. „Diejenigen, die wirklich
selbstständig sind, zählen längst zur Minderheit“, sagt Jana.
Doch als hätte sie nie in diesen Abgrund geschaut, begegnet sie den
Menschen in ihrem Dorf mit einem Vorschuss an Vertrauen. Sie arbeitet
im nahen Kinderheim und hilft benachteiligten Mädchen und Jungen. Sie
will, dass keiner von ihnen seinen Halt verliert. Und die Kinder hängen
an ihr. Vielleicht weil bis heute etwas Jugendliches von Jana ausgeht.
Als wäre ihre eigene Kindheit damals nie zerstört worden. Sie ist trotz
allem wieder heil geworden und hat den Menschen, der zerbrach,
wieder zusammengesetzt.
Wie fest Jana heute steht und wie gründlich sie ihr Gestern
aufgearbeitet hat, verraten ihr ihre Träume: Lange fantasierte sie
nachts ihren eigenen Tod. Wie es Menschen tun, die noch einmal von
vorn anfangen, ein neues Leben beginnen und das alte begraben.
Jana hat den Fluch ins Gegenteil verkehrt. Sie sagt: „Ich danke diesem
Land, dass es mich aufgenommen hat. Das hat mir mein Leben
gerettet.“ Sie bekam Hilfe von den Behörden, von Fremden – und von
dem Freund eines Zuhälters. Einem Mann, dem ersten, der es gut mit
ihr meinte. „Ich hatte so eine Sehnsucht danach.“ Sehnsucht nach einem
Mann, der sie wie seine Frau beschützt, nicht wie ein Zuhälter seine
Hure. Dieser Mann half ihr aus dem Milieu heraus, er verliebte sich in
Jana. Er heiratete sie, da war sie 18 Jahre alt. Zusammen bekamen sie
eine Tochter, die heute 15 ist. Die ihrer Mutter wie eine beste Freundin
ist. „Für sie lebe ich, ich gebe ihr alles, was ich damals vermissen
musste.“
Heute ist Jana mit ihrem Retter nur noch befreundet und mit einem
anderen Mann verheiratet. „Ihm bedeutet es nichts, was war. Er sieht
mich im Heute.“
Bis heute vermisst Jana die Liebe jener Frau, die sie dazu brachte, sich
selbst zu verkaufen. Doch sie hat gelernt, mutterseelenallein zu sein.
Immer wenn Jana dieses Nichts überkommt, hüllt sie sich in ihre
Erinnerungen an ihre geliebte Großmutter ein. Zu ihr rannte sie, wenn
sie es zu Hause nicht mehr aushielt.
Zerrt sie das Gestern an manchen Tagen in Gedanken wieder zurück,
schließt sie die Augen und träumt sich heim zur Großmutter. Dann riecht
sie wieder den „Duft ihrer frisch gebackenen Heidelbeerplunder“. Dann
hört sie, wie die Oma „meinen Namen ruft“. Dann spürt sie die „frisch
gewaschenen Kleider, die sie für mich bereitlegt“. „In den
schrecklichsten Momenten meines Lebens haben mir die Bilder meiner
Großmutter Kraft gegeben, nicht aufzugeben.“ Wenn sie die Augen
wieder öffnet, blickt sie auf die blauen Blumen unter ihrer Haut.
„Es sind japanische Kirschblüten“, sagt Jana und fährt mit ihrem
Zeigefinger an den Blütenblättern entlang. Kirschblüten stehen für den
Aufbruch, den Neuanfang nach dem Winter. Auch für die Schönheit und
die Vergänglichkeit.
Janas blaue Blumen aber werden noch lange nicht vergehen. Sie
werden bei ihr bleiben. Ihr neues Leben lang.
Tim Pröse
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